//

Tempo

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Tempo

Ob sie nicht längst auf verlorenem Posten stünden, fragte Wette.

Wie er das meine, fragte Farb.

Sie hätten den Anschluß verpaßt, sagte Wette.

Er verstehe nicht, sagte Farb.

Die Dinge liefen an ihnen vorbei, sagte Wette.

Welche Dinge, fragte Farb und tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Farb strich die Sahne langsam und sorgfältig glatt.

Annika legte ihr Reisemagazin beiseite.

Nein, sagte Farb, der Eindruck sei falsch, die vermeintliche Geschwindigkeit täusche lediglich spektakulär darüber hinweg, daß sich nichts bewege, null, eine wieder neue Technologie löse die eben noch neueste Technologie ab, so immer weiter, Wachstum & Fortschritt, rasant beschleunigt, und dennoch bleibe alles beim alten, mehr noch, das allgegenwärtige Elend werde verschleiert.

Ein lärmendes Bohei, sagte Wette.

Beste Laune, Oktoberfest, böhmische Dörfer, sagte Farb, und was als neueste Technologie gepriesen werde, entpuppe sich als ein nächster Schritt hin zum Abgrund, und es sei durchaus zweifelhaft, ob eine flächendeckende Digitalisierung den Alltag erleichtere, sie gäbe vor, neuen Schwung zu verleihen, sagte Farb, doch sei nicht der Alltag auf Kuba wegen eines Stromausfalls von jetzt auf gleich gänzlich lahmgelegt gewesen, vier Tage lang, der technologische Standard sei  übermäßig anfällig, die gelobten Produkte seien unausgereift, es gelte trial and error in gigantischem Maßstab, kriminellen Elementen seien Tür und Tor geöffnet, man lebe in einer Hochleistungsgesellschaft.

In jeder Hinsicht.

Wo du hinsiehst, spottete Farb, nichts als Hochleistung, überall Hochleistung, Zehnjährige im Violinkurs, Zwölfjährige im Doktorandenkolloquium, Sechzehnjährige in der Champions League.

Hochgezüchtete Exemplare, dazu Depression und burnout immer in Sichtweite, und, fügte er hinzu, auch die Natur erbringe bekanntlich Hochleistungen, konkurrierende Hochleistungen, ein Wettrennen, wohin werde das führen, ihre Orkane seien vernichtend wie nie zuvor, Waldgebiete stünden in Flammen, starke Regenfälle setzten weite Landstriche unter Wasser und verursachten Stromausfälle, unterbrächen die Infrastruktur, das sei nicht gut für die knapp kalkulierten Lieferketten.

Tilman griff zu einem Marmorkeks.

Farb aß von seiner Pflaumenschnitte.

Wette warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Am Ende sei wieder alles im Gleichgewicht, nachweislich, statistisch gesehen, höhnte Tilman, wie könnte es anders sein, in der Hochleistungsgesellschaft gelte nun einmal hohes Risiko, jeder Einsatz könne tödlich enden, alles stehe auf dem Spiel, von jetzt auf gleich, nein, beruhigend sei das nicht, weißGott nicht, zumal auch die Natur ihre Hochleistungen erbringe, und wie es aussehe, werde der Mensch den kürzeren ziehen, keine Chance, null, er stehe auf verlorenem Posten, er wisse das nur nicht, der Schmerz sei noch nicht überall eingetroffen.

Ob er das nicht wisse, wiederholte Farb, oh doch, er wisse das sehr wohl, aber er wolle es nicht wahrhaben, er verdränge es, auch seine Fähigkeit, zu verdrängen, sei auf Hochleistungsniveau.

Wette lächelte.

Schwierig, sagte er, und was könne man tun, frage er sich, um zu verhindern, daß er gegen die Wand laufe.

Abrüsten, sagte Farb, er müsse abrüsten, besser heute als morgen, flächendeckend abrüsten, das Tempo reduzieren, wie wenn er ein fahrendes Auto verlassen wolle, er müsse rückbauen, so wie er kanalisierte Bäche renaturalisiere, trockengelegte Moore wieder bewässere, im Grunde wisse er längst, was zu tun sei, nur müsse er sich auch an die großen Projekte heranwagen.

Die Digitalisierung zum Beispiel, fragte Wette.

Er müsse seine Fehler korrigieren, kein Zweifel, sagte Farb, dringend korrigieren, und das betreffe die Digitalisierung und all den darauf beruhenden horrenden Unsinn: die sogenannte künstliche Intelligenz, die vermeintlich selbstfahrenden Autos, ChatGPT, Marsflüge storniert – rückbauen halt, da sei massiv Schaden angerichtet und eine Menge zu tun, im Idealfall bleibe dennoch eine geringe Chance, vorausgesetzt, die aufgeschreckte Natur lasse ihm Zeit dafür, denn wer spät komme, den bestrafe das Leben.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Brücke zwischen Spielekultur und Gesellschaft

Nächster Artikel

Drastische Erziehungsmaßnahmen

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Gespannt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Gespannt

In der Ojo de Liebre herrschten spezielle Umstände, man mag darüber denken, was man will, und die Fangpause hatte der Mannschaft zu guter Letzt ein Gefühl von Leichtigkeit verschafft oder immerhin eine Ahnung davon, wir gestatten uns kurz einen Blick zurück, vor allem Eldins verletzte Schulter hatte den Anlaß für diese Maßnahme geboten, wie sollte er in diesem Zustand eine Harpune werfen, andere hatten sich Zerrungen zugezogen, Schürfungen, Stauchungen, Kratzer.

Pharaonin

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Pharaonin

Eine Grabstätte.

Ein Mausoleum.

Größer.

Sie habe es auf mehreren Ebenen anlegen lassen, sagte Ramses II., das sei zwei Jahrhunderte vor seiner Zeit geschehen, noch während der achtzehnten Dynastie, auch Echnaton habe der achtzehnten Dynastie angehört, gewiß, ja, er kenne den Totentempel in Deir el-Bahari, mit ihm habe Hatschepsut eine eigene Tradition der monumentalen Bauten begründet, die Ramessiden, ergänzte er, hätten zwei Jahrhunderte nach ihr regiert, sie gehörten der neunzehnten und der zwanzigsten Dynastie an.

Verwirrung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Verwirrung

Die allgemeine Konfusion verdichte sich, nicht wahr, man müsse sich eine gehörige Portion Argwohn bewahren, sagte Tilman und  griff nach einem Vanillekipferl.

Farb schenkte Tee ein.

Der Planet sei heruntergewirtschaftet, die Dinge würden unaufhaltsam bröckeln, sagte er, der Status quo werde allerorten unzureichend oder falsch erklärt, und niemand wundere sich noch über ungewöhnliche Perspektiven.

Irrfahrt mit dem Navigator

Kurzprosa | Hartmut Lange: Der Lichthof

»Es gibt kein Problem, das man nicht aus der Welt schaffen kann. Man muss nur verstehen, worum es geht«, lässt der inzwischen 83-jährige Hartmut Lange eine seiner Figuren, den Politologen Ronnefelder gleich zweimal sagen. Das klingt Lange-untypisch, fast simpel, beinahe wie ein Kalenderspruch aus einem philosophischen Ratgeber. Vom Berliner Novellisten ist man anderes gewohnt: jede Menge Düsternis, Rätselhaftigkeiten, tiefe seelische Abgründe und bisweilen schaurige Naturbeschreibungen, die er zumeist an einsamen Ufern der vielen Seen im Berliner Umland angesiedelt hat. PETER MOHR hat den neuen Novellenband von Hartmut Lange Der Lichthof gelesen.

Same procedure as every year?

Literaturkalender 2017 2016 geht langsam zur Neige, doch zu den stimmungsvollen Ritualen des ausgehenden Jahres gehört das Stöbern und Sichten, Kaufen und Verschenken neuer Kalender. Besonders hoffnungsfroh gestaltet sich der Ausblick auf die kommenden Monate mit ausgewählten Literaturhäppchen und poetischen Gedichtzeilen.Von INGEBORG JAISER