/

Den Kopf verlieren

Menschen | Vor 100 Jahren wurde Friederike Mayröcker geboren

»Eigentlich kann ich beim Schreiben den Kopf verlieren«, heißt es in einem der späten Gedichte von Friederike Mayröcker aus dem Jahr 2019. Der Suhrkamp Verlag hat nun pünktlich zum 100. Geburtstag einen opulenten Band mit Arbeiten aus der letzten Schaffensperiode vorgelegt – chronologisch angeordnet und mit einem respektvoll-klugen Nachwort von Marcel Beyer versehen. Von PETER MOHR

Ihre Kreativität war imponierend. Bis zuletzt hat die Grande Dame der österreichischen Literatur geschrieben und fast Jahr für Jahr »ihr letztes Buch« veröffentlicht. Im Herbst 2020 war noch der Band ›da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete‹ erschienen, in dem sie sich selbst als »Debütantin des Todes« bezeichnete.

»Wer Friederike Mayröcker liest, fühlt sich entführt in eine Wunderwelt, in einen unübersehbaren und letztlich unerklärlichen Zaubergarten«, hatte der damalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel 2004 bei einem Empfang zu Ehren der bedeutenden Wiener Wortkünstlerin erklärt.

Dieser Zaubergarten der Sprache, den die Georg-Büchner-Preisträgerin des Jahres 2001 über mehr als 60 Jahren hegte und pflegte, war einerseits von urwüchsiger, beinahe archaischer Natur, andererseits aber auch geprägt von spielerischer Leichtigkeit und formalen Experimenten.

Die Begegnung mit Mayröckers opulentem Werk mutet wie ein Gang durch ein Labyrinth an – verschlungen und breit gefächert öffnen sich die bisweilen rätselhaften dichterischen Pfade. Mindestens ebenso geheimnisvoll wirkten ihre öffentlichen Auftritte in der bevorzugten schwarzen Kleidung.

In ihrem zum 90. Geburtstag veröffentlichten poetischen »Zettelkasten« fanden sich (nicht unbedingt typisch für die Dichterin) auch äußerst humorvolle Passagen. Da hieß es: »Keiner sonst liesz mich so schmachten, das sind die Ellipsen der Sprache ich meine das Kissen umarmend. Die Vorstellung hüpfender Ärsche bei Antonin Dvorák, fliegt es mir durch den Kopf.«

»Man weiß nicht, wohin man kommt – man lässt sich tagtäglich neu überraschen«, hatte Friederike Mayröcker, die am 20. Dezember 1924 in Wien als Tochter eines Volksschullehrers geboren wurde, ihr dichterisches Credo beschrieben. Spontaneität spielte in ihren Werken, die häufig aus einem Zettelkastensystem entstanden, eine mindestens ebenso große Rolle wie autobiografische und literarhistorische Motive (bevorzugt aus der Antike). Eugen Gomringer, Max Bense, HC Artmann und ihr langjähriger Lebensgefährte Ernst Jandl wurden zumeist als ihre literarischen Ahnen angeführt. Unübersehbar ist in ihren Prosawerken aber auch die Nähe zu Arno Schmidt, und darüber hinaus offenbaren sich Wurzeln, die in den Surrealismus reichen. Vor allem von der »subversiven Kraft« des jungen Salvador Dali fühlte sich der »Augenmensch« Mayröcker stark angesprochen. Darstellende Kunst war häufig die Inspirationsquelle für ihre Texte: »Ich fresse mich in sie hinein. Ja, ich verbohr mich buchstäblich in das Bild. Das kommt mir fast wie ein archäologischer Akt vor, bei dem sich mir verbal ein ungeheurer Horizont öffnet.«

Bei allem, was Friederike Mayröcker schrieb (es liegen knapp 100 Titel von ihr vor), war sie stets eine Grenzgängerin zwischen den literarischen Genres. Ihre lyrischen Momentaufnahmen von visuellen Eindrücken haben häufig stark deskriptiven Charakter, und ihre Prosa (›Das Herzzerreißende der Dinge‹ [1985], ›Stilleben‹ [1991] oder ›Lection‹ [1994]) liest sich wie eine assoziative Aneinanderreihung von poetisch verdichteten Aphorismen.

Friederike Mayröcker selbst hat einmal den Roman ›Brütt oder die seufzenden Gärten‹ (1998) als ihr wichtigstes Buch bezeichnet. Ein poetisches Opus Magnum, das aus Reflexionen, Dialogen und direkten Ansprachen an den Leser besteht und in dem die Autorin auch noch einmal nachhaltig ihre Meisterschaft als Hörspiel- und Theaterautorin unterstreicht. »Das Gedichte Schreiben ist so eine Art Aquarellieren, das Prosa Schreiben ist eine harte Kunst wie eine Skulptur Anfertigen«, hat Mayröcker selbst einmal die Genreunterschiede zu erklären versucht.

Der Dichter Ernst Jandl, mit dem sie über ein halbes Jahrhundert zusammenlebte und dem sie nach dessen Tod im Jahr 2000 ein unter die Haut gehendes ›Requiem‹ widmete, bezeichnete ihr Schreiben einmal als »das fortwährende Sprechen ihres Leibes«. Die mit vielen bedeutenden Preisen ausgezeichnete Friederike Mayröcker, die 1956 mit dem Band ›Larifari‹ debütierte, war als Person und mit ihrem umfangreichen Oeuvre zu einem monumentalen Gesamtkunstwerk geworden. Am 4. Juni 2021 ist die absolut singuläre Wortkünstlerin Friederike Mayröcker in Wien im Alter von 96 Jahren gestorben. Der vorliegende Band mit den späten Gedichten ist ein eindrucksvolles literarisches Vermächtnis – hoch poetisch, bisweilen rätselhaft und herrlich verspielt.

Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte 2004-2021. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 541 Seiten, 38 Euro
Friederike Mayröcker: Larifari. Illustriert und montiert von Nicolas Mahler. Insel Bücherei, Berlin 2024, 96 Seiten, 15 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wenn Kirsten einen Roman schreibt

Nächster Artikel

Manche Menschen treffen einen hart

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Leben nach einer Partitur

Menschen | Zum 90. Geburtstag von Alexander Kluge

»Ich habe eine Partitur, nach der ich lebe, jedenfalls wenn ich schreibe: Wenn man vor der Wand steht, wenn es nicht weiter geht, muss es irgendwo anders weitergehen«, hatte Alexander Kluge schon 2003 in seinem Band ›Die Lücke, die der Teufel lässt‹ erklärt. Dieser Satz beschreibt äußerst treffend Kluges Energie, seine Umtriebigkeit, seinen eisernen Willen, neue Wege zu erforschen, neue Zusammenhänge zu ergründen – alles abseits des intellektuellen und künstlerischen Mainstreams. Von PETER MOHR

Sorglos am Abgrund stehend

Menschen | Zum 125. Geburtstag des Schriftstellers, Philosophen und Kunstkritikers Walter Benjamin am 15. Juli »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus.« Wilhelm Müllers Verszeile, die in Schuberts ›Winterreise‹ eingeflossen ist, könnte leitmotivisch über Walter Benjamins Leben stehen. Fremd blieb ihm seine großbürgerliche Herkunft, in die er einzog – ebenso fremd war ihm der faschistische Ungeist, der ihn 1940 in den Selbstmord trieb. Von PETER MOHR

Zufall oder Fortune

Kurzprosa | Hans-Magnus Enzensberger: Tumult Zum 85. Geburtstag des Schriftstellers Hans-Magnus Enzensberger  am 11.11. erscheint der autobiografische Band Tumult. Von PETER MOHR

Die Literatur-Nobelpreisträger 2019

Menschen | Olga Tokarczuk und Peter Handke Die Literatur-Nobelpreisträger für die Jahre 2018 und 2019 wurden gestern von der Stockholmer Akademie bekannt gegeben. Die mit jeweils rund 830.000 Euro dotierten Auszeichnungen gehen an Olga Tokarczuk und Peter Handke. Die Doppel-Vergabe war wegen eines Skandals (verbunden mit mehreren Rücktritten) im Nobelpreiskomitee nötig geworden. Von PETER MOHR

Anwesende Abwesenheit

Gesellschaft | Inge Jens: Langsames Entschwinden Als der große Denker und Rhetorikprofessor Walter Jens an Demenz erkrankte, war die Krankheit noch weitgehend mit einem Tabu belegt und in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit wenig präsent. Auch Inge Jens musste erst lernen, nach und nach mit der Diagnose und dem wachsenden Einschränkungen ihres Ehemannes umzugehen. ›Langsames Entschwinden‹ vereint eine Sammlung ausgewählter Briefe aus acht Jahren mit einem mutigen und klugen Plädoyer für eine angemessene Pflegesituation. Von INGEBORG JAISER