Kreolische Walzer

Roman| Mario Vargas Llosa: Die große Versuchung

In dem Roman »Die große Versuchung« befasst sich der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa mit der Musik seines Heimatlandes. Von BETTINA GUTIERREZ

Ein Mann in hellem Anzug, der vor großen Pflanzen Gitarre spieltTono Azpilcueta ist ein Experte für kreolische Musik, genauer gesagt für den peruanischen Walzer. Er schlägt sich als Zeichen- und Musiklehrer durch, schreibt ab und an Kritiken in Fachzeitschriften und ist beseelt von der Folklore seines Landes. Als er von dem bekannten Schriftsteller und Wissenschaftler José Durand  Flores zu einem Konzert des Solisten Lalo Molfino eingeladen wird, nimmt sein Leben schlagartig einen anderen Lauf: Fasziniert vom virtuosen Gitarrenspiel der kreolischen Walzer beschliesst er ein Buch über ihn und die peruanische Seele, die diese Musik verkörpert, zu schreiben.

Fast fieberhaft begibt er sich auf die Suche nach Lalos Wurzeln; er findet heraus, dass er einst als Säugling auf einer Müllhalde ausgesetzt und von einem Pater italienischer Herkunft adaptiert wurde. Als Autodidakt hat er sich das Gitarrenspiel selbst beigebracht, doch trotz des großen musikalischen Talents fällt es ihm schwer, sich in die Gemeinschaft eines Ensembles einzufügen. Er ist ein eher verschlossener, leicht mürrischer Einzelgänger mit narzisstischen Zügen.

Mit der Zeit werden Tono das Schreiben und die Recherchen jedoch zur Obsession. Er vertieft sich Tag und Nacht darin, fertigt unzählige Entwürfe an, die er wieder verwirft und vernachlässigt dabei seine Töchter und Ehefrau Matilde. Schließlich gelingt ihm eine erste Fassung, die von einem ehemaligen Buchhändler mit verlegerischen Ambitionen begeistert angenommen wird. Antenor Cabada, der Verleger, publiziert eine erste Auflage mit dem Titel »Lalo Molfino und die stille Revolution«.

Sein Buch hat eine politische Botschaft: Der kreolische Walzer habe die Aufgabe, die Gemeinschaft und Einheit der peruanischen Bevölkerung zu fördern, so lautet die zentrale These. Er solle, erklärt Tono, eine Revolution auslösen, die die gesamte Gesellschaft erfasse, um sie über alle Vorurteile und gemeinsame Gräben hinweg zu vereinen. Der Vals wird für ihn hier zur Metapher des Wunsches nach einer egalitären, gerechten Gesellschaft, die alle Klassen- und Rassenunterschiede überwindet.

Diese politische Dimension ist es, die Tono zunächst eine zweite Auflage und eine Professur für peruanische Belange an der Universidad San Marcos in Lima beschert. Er wird in Fernseh- und Radiosendungen eingeladen, die Zeitungen überschlagen sich mit lobenden Rezensionen und die chilenischen Nachbarn laden ihn zu einer Vortragsreise ein. Als wäre dies nicht genug, beschließt er nach der Rückkehr aus Chile die geplante dritte Auflage seines Essays mit neuen Gedanken zu bereichern, die besagen »dass alle Konflikte auf dem Kontinent  (. . .) gelöst werden könnten dank der volkstümlichen lateinamerikanischen Musik. Und was für Lateinamerika galt, galt das nicht für die ganze Welt, für die gesamte Menschheit?«

Außerdem lässt er sich dazu hinreißen unliebsame peruanische Phänomen wie die Hexerei und den Satanismus im Text zu erwähnen. Die Auflage ist natürlich, wie zu erwarten, ein großer Misserfolg. Seine Professur an der Universität wird mangels interessierter Studenten eingestellt und Tonos Träume von einem anderen, besseren Peru lösen sich somit in Luft auf. Es bleibt nur die Hoffnung auf eine ferne Zukunft, auf eine Utopie.

Die große Versuchung ist ein lebendiger, heiterer und vielfältiger Roman mit einigen Exkursen zur peruanischen Geistes-, Sozial- und Musikgeschichte. Der Leser erfährt am Rande der turbulenten Handlung viel über die peruanische Gesellschaft, Geschichte und  Kultur. Und über den kreolischen Walzer, der nicht nur ein Sinnbild für die Liebe, Freundschaft und Freude, sondern auch für den Gemeinsinn ist. Aber er ist vor allem eine Hommage Mario Vargas Llosas an sein Heimatland Peru, dem er hiermit zum Abschied als Schriftsteller ein literarisches Denkmal setzt. Ein schöner, gelungener Abschied, eine packende Lektüre.

| BETTINA GUTIERRÈZ

Titelangaben
Mario Vargas Llosa: Die große Versuchung
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot
Berlin: Suhrkamp 2024
304 Seiten. 26 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Mario Vargas Llosa in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Worte

Nächster Artikel

Risse in den Welten

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Not eines Kritikers

Roman | Volker Hage: Die freie Liebe »Ich habe ja lange gewartet und bin eigentlich auch ganz froh, jetzt erst, nachdem ich als Literaturredakteur aufgehört habe, mit diesem Buch herauszukommen. Es ist ein Buch, an dem ich viele Jahre geschrieben habe«, bekannte Volker Hage, einst Reich-Ranicki-Schüler bei der ›FAZ‹, später bei ›ZEIT‹ und ›SPIEGEL‹ einer der einflussreichsten deutschsprachigen Literaturkritiker, über seinen Romanerstling ›Die freie Liebe‹. Von PETER MOHR

Ein Symbol für Freiheit, Flucht und Hoffnung

Roman | Dunya Mikhail: Das Vogel-Tattoo

Die Geschichte der zentralen Figur ihres neuen Romans über eine jesidische Familie im Nordirak, eine Jesidin namens Helen, deren Herkunftsland der Irak ist, basiert auf wahren Begebenheiten. Der Ende 2024 in deutscher Übersetzung erschienene Roman ›Das Vogel Tattoo‹ von Dunya Mikhail widmet sich den Themen Identität, Verlust und Hoffnung des jesidischen Volkes. Der Titel des Buches leitet sich von einer Liebesgeschichte zwischen Helen und Elias ab, seit dieser Zeit haben sie beide Vogel-Tattoos. Von DIETER KALTWASSER

Ein schweres Beben

Roman | Peter Henning: Ein deutscher Sommer Peter Hennings Roman Ein deutscher Sommer über das Gladbecker Geiseldrama. Von PETER MOHR

Wenn die Seele gefriert

Roman | Reinhard Kaiser-Mühlecker: Fremde Seele, dunkler Wald Der Niederösterreicher Reinhard Kaiser-Mühlecker ist trotz seiner gerade einmal 34 Jahre längst weit mehr als nur ein Geheimtipp in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Als der auf dem elterlichen Bauernhof in Eberstalzell aufgewachsene Autor 2008 mit dem schmalen Roman Der lange Gang über die Stationen debütierte, wirkte diese Prosa über das bäuerliche Leben in der Provinz wie ein Relikt aus längst vergangener Zeit. Von PETER MOHR

Von Hunden und Menschen

Roman | Sigrid Nunez: Der Freund

Von einem unfreiwilligen Erbe, der Beziehung zu einem eigenwilligen Haustier, aber auch von den überheblichen Gepflogenheiten des Literaturbetriebs handelt Sigrid Nunez siebter Roman: Der Freund – in den USA bereits mit dem National Book Award ausgezeichnet – macht die angesehene amerikanische Gegenwartsautorin mit einem Schlag auch beim deutschen Publikum bekannt. Von INGEBORG JAISER