Karttinger, wieso Karttinger, was ist mit Karttinger?
Was fragst du mich, Farb?
Du vermißt ihn nicht?
Er ist kein unterhaltsamer Gesprächspartner, das war er nie, er ist ein Griesgram, ein Misanthrop.
Für jeden Charakter eine Schublade, das klingt aber wenig ergötzlich, Tilman.
Er ist rigoros, kaum jemand sucht seine Nähe, ungehobelt, er lebt zurückgezogen in Rahlstedt, gut möglich auch, daß er sich einige Tage in der Vendée aufhält, die Menschheit, sagt er, habe keine Zukunft, und wer wolle das gern hören.
Auch wenn er recht hat?
Auch wenn er recht habe, sagte Tilman. Zu sagen, die Menschheit könne ihre Zukunft vergessen, das werde als unpassend empfunden, als unschicklich, auch als verletzend, als ungehörig, man sage so etwas nicht, nein, kein Thema, verstehst du, es entspreche nicht dem guten Ton, entspringe schlechter Laune, spottete Tilman, wie auch immer, die Zukunft habe doch bitte rosig zu sein.
Annika blätterte in einem Reisemagazin.
Farb hatte ein Blech Pflaumenkuchen gebacken, er tat sich eine Schnitte auf, sie war noch kaum abgekühlt.
Sie saßen zu dritt im Wohnzimmer, einen Adventskranz aus Gezweig auf dem Couchtisch, zwei farbintensive großformatige Gemälde von befreundeten Künstlern und drei Drucke von Landschaften, chinesische Landschaften, Shitao, verliehen dem Raum eine angenehm warme, gelöste Atmosphäre, Annika, eine leichte Erkältung zu kurieren, trank Tee von Salbeiblättern aus ihrem geliebten rostroten Drachenservice.
An den Themen, die man meide, erkenne man, sagte Tilman, wie marode die Balance sei und wie zerbrechlich das Gefüge, auf dem sie ruhe. Karttinger habe ja recht, sagte er, die Menschheit wiege sich in einer Illusion und wolle das nicht wahrhaben.
Daß der Planet zu retten sei?
Unüberlegt dahergeredet, würde Karttinger sagen, die Stirn in Falten gelegt, erzürnt, weil diese Frage und allein die verwegene Annahme, daß der Mensch etwa den Planeten retten könne, erneut nur den Größenwahn zum Ausdruck bringe, das abgrundtief verwurzelte koloniale Denken, der Mensch, sage Karttinger, sei seit jeher im Begriff, den Planeten zu kolonisieren, alles oder nichts, protestantisch-calvinistische Ethik, und außerdem sei der Zeitpunkt, an dem sich der Mensch hätte umstellen müssen, längst verstrichen, er sei da nicht auf der Höhe der Zeit, nein, es werde keine Zukunft geben, sage Karttinger, das war einmal, verloren, darauf müsse sich der Mensch einstellen.
Das sei leicht gesagt, Tilman, Farb lachte, doch wie, bitteschön, könne sich jemand darauf einstellen, daß es keine Zukunft geben werde?
Annika lächelte. Ein Ding der Unmöglichkeit.
Unausweichlich, beharrte Tilman. Die Klimakatastrophe sei ein Fakt, wir seien bis über die Ohren mittendrin, sagte er, und ebenso steuerten wir schnurstracks auf den nächsten GAU zu, nur daß der Zeitpunkt auf sich warten lasse, die menschliche Existenz sei dem ausgeliefert, früher oder später, aus, vorbei, die Abläufe seien absehbar, überhitzt, klar, der Mensch agiere unter latenter Panik, und wer rede überhaupt noch über die Lagerung des Atommülls.
Allein daß da von Müll die Rede sei, sagte Farb und seufzte.
Ausweglos. Annika nickte. Das sei kein Abfall, sagte sie, den man einfach wegwerfen könne.
Tilman stand auf, ging in die Küche, holte eine Schüssel Schlagsahne und stellte sie auf den Tisch, die Schüssel hatte ein ansprechendes Rosendekor, er hatte sie auf einem Flohmarkt erworben, aus Restbeständen einer Haushaltsauflösung.
Farb tat sich einen Löffel Sahne auf und verteilte sie sorgfältig auf der Pflaumenschnitte, die noch kaum abgekühlt war, an den Rändern begann die Sahne sogleich zu verlaufen.
Im südfranzösischen Perpignan, gut hunderttausend Einwohner, nicht weit von der Mittelmeerküste und von der Grenze zu Spanien entfernt, sagte Tilman, hätten vor einigen Wochen aufgrund der anhaltenden Dürre Landwirte und Geistliche erstmals seit einhundertfünfzig Jahren wieder eine Bittprozession veranstaltet.
Herr, du bist unsere Zuflucht für und für.
Exakt.
Wer kommt auf so etwas?
Die Idee, eine ursprünglich westgotische Tradition aus dem Mittelalter wiederzubeleben und um Regen zu bitten, sagte Tilman, stamme von einem ortsansässigen Weinbauern, der habe die Prozession im Februar beim Bistum angeregt.
Und, Tilman, was sei davon zu halten?
Das Vertrauen in die weltlichen Instanzen sei geschwunden, also in Politik, also in Ökonomie, Wachstum und Fortschritt fänden sich als leere Parolen entlarvt, als Phrasen, als Täuschung, als Propaganda eines kapitalistischen Status quo, Worte verlören ihren Sinn oder sie würden in ihr Gegenteil verkehrt, sagte Tilman, nichts schreite mehr voran, nichts wachse, nichts reife.
Es sei denn die Armut, das Elend, wandte Farb ein.
Man dürfe sich nicht länger durch Phrasen und Neologismen blenden lassen, Farb, es ginge darum, sich in einer ausweglosen Lage wenigstens nicht in die Tasche zu lügen, mehr könne man nicht tun.
Annika trank einen Schluck Tee, einen Tee von Salbeiblättern, um ihre leichte Erkältung zu kurieren, ich erwähnte es.