/

Detektivduo Mann & Müller

Roman | Tilo Eckardt: Gefährliche Betrachtungen

Goethe, Schiller oder Storm – sie alle haben bereits Rollen in aktuellen Kriminalromanen gespielt. Jetzt gesellt sich zu der Reihe ein weiterer Großschriftsteller hinzu – der in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag begehende Thomas Mann. Als der im August 1929 mit seiner Frau von Königsberg aus einen Ausflug auf die Kurische Nehrung unternahm, machte die dortige Landschaft auf ihn einen solch spektakulären Eindruck, dass er beschloss, sich hier ein Sommerhaus zu bauen. Gut, dass ihm kurz vorher in Stockholm der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde. Denn dadurch war die Finanzierung des kleinen Anwesens kein Problem. Rund um das schmucke Häuschen auf dem »Schwiegermutterberg« in Nidden sowie um die fiktive Villa Bernstein der Witwe Bryl lässt Tilo Eckhardt seinen »Fall Thomas Mann« spielen. Und er präsentiert einen Literaturtitanen, der in jenen Jahren ganz und gar nicht so unpolitisch war, wie er gern von sich selbst behauptete. Von DIETMAR JACOBSEN

Man schreibt das Jahr 1930, als sich in dem ostpreußischen Fischerdorf Nidden die Wege des Schriftstellers Thomas Mann und eines jungen Intellektuellen aus dem Baltikum kreuzen. Regelrecht auf die Lauer gelegt hat sich Žydrūnas Miuleris, um seinem Idol, das auf dem Niddener »Schwiegermutterberg« seit einem Jahr ein Sommerhaus besitzt und dort mit Ehefrau Katia und den beiden jüngsten seiner sechs Kinder, Elisabeth und Michael, Urlaub macht, nahezukommen. Denn nichts Geringeres strebt Miuleris an, als Manns Werke ins Litauische zu übersetzen. Aber der die Öffentlichkeit scheuende Nobelpreisträger ist nicht so leicht zu überzeugen, dem jungen Fremden seine Werke anzuvertrauen. Erst als es Miuleris gelingt, ein paar Blätter zu fangen, die dem in einem Strandkorb an einem wichtigen Text arbeitenden Schriftsteller durch eine Windbö vom Schoß geweht werden, kommt man sich näher.

Eine verschwundene Abschrift

Es sind Notizen zu Manns berühmter »Deutschen Ansprache«. Der Schriftsteller wird sie am 17. Oktober 1930 im Berliner Beethoven-Saal halten und es sich mit ihr für alle Zeit bei der zur Macht drängenden Nazipartei verscherzen. Hier, in Nidden, arbeitet er noch am Ton des Ganzen, als ihm der Wind seinen Streich spielt. Und natürlich wirft Miuleris, bevor er die schwer zu entziffernden Seiten dem berühmten Schriftsteller wieder aushändigt, einen kurzen Blick auf die drei Blätter. Der aber reicht aus, damit der Litauer mithilfe seines ausgeprägten fotografischen Gedächtnisses noch am gleichen Tag eine handschriftliche Abschrift des Gelesenen anfertigen kann. Dumm nur, dass Miuleris das Faksimile verliert, als er sich am Abend des Tages im Gasthaus Blode, dem Treffpunkt der Niddener Künstlerkolonie, dazu hinreißen lässt, mit seinen Fäusten für die Ehre Thomas Manns gegenüber einem Gast, der die Buddenbrooks mit Hitlers Mein Kampf zu vergleichen wagt, einzustehen. Und natürlich weiß er sofort danach, dass ein Skandal droht, gelangt das, was Mann notiert hat, in die falschen Hände.

Es funktioniert ganz vorzüglich, wie der deutsch-schweizerische Lektor, Verleger, Autor und Literaturagent Tilo Eckhardt mit viel Gespür für lokales Kolorit, einer geschickt der Handlungszeit und den handelnden Personen angepassten Sprache, viel Humor und einer engen Verzahnung von Realität und Fiktion aus einer kleinen Idee einen spannenden Roman macht. Der ist zu großen Teilen dort entstanden, wo er spielt, in einer Autorenresidenz im litauischen Nida, unmittelbar benachbart dem ehemaligen Sommerhaus der Manns. Und Eckhardt präsentiert auf der Jagd nach den verschwundenen Papieren ein Detektivgespann, das sich sofort mit Feuereifer in seinen ersten Fall – ein zweiter ist, wie man hört, schon in Arbeit – stürzt.

Wir war’n zwei Detektive

Denn natürlich kommt Müller, wie Thomas Mann Miuleris der Einfachheit halber nennt, nicht umhin, dem Schriftsteller nach einer unruhig verbrachten Nacht den Verlust seiner Nachschrift zu beichten. Lässt dem aber sofort das Versprechen folgen, die verlorenen Blätter wiederzubeschaffen. Und weil auch Mann nicht daran interessiert ist, dass Vorarbeiten zu seiner brisanten Rede in die Hände gerade jener Kräfte geraten könnten, deren Gefährlichkeit für Deutschlands Zukunft er darin mit scharfen Worten thematisiert, sieht man sie fortan gemeinsam zwischen Ostsee und Haff unterwegs, den weltbekannten Schriftsteller, der, bei aller Energie die er in die Wiederbeschaffung des Verlorengegangenen investiert, keinesfalls auf seinen gewohnten Mittagsschlaf verzichten will, und seinen beflissenen Helfershelfer, der stets mutig vorangeht, wenn Gefahr droht.

Thomas Mann selbst bringt die Parallele zu Sherlock Holmes und Dr. Watson ins Spiel, wenn er über sich und seinen litauischen Verehrer in ihren neuen Rollen nachdenkt. Und weil er einiges von Arthur Conan Doyle gelesen hat, weiß er natürllich auch, mit welcher Methode man am schnellsten sein Ziel erreicht: »Wir müssen deduzieren, wenn wir herausfinden wollen, wo sich die Abschrift meiner Notizen befindet.« Und so kommt man, auch wenn ihr Weg erst einmal auf den Schauplatz eines anderen Verbrechens führt, voran. Und wird Hilfe gebraucht, so stehen die bauernschlaue Pensionswirtin Frau Bryl, die Miuleris jeden Morgen pünktlich aus den Federn scheucht, und ihr Hund Ludwik, der bald zum Dauerbegleiter des jugendlichen Helden wird, sowie die sich als Kellnerin bei Blode als auch als Haushaltshilfe bei den Manns ein wenig Geld verdienende litauische Studentin Dalia, auf die Miuleris nicht nur ein Auge geworfen hat, bereit.

Kein Eckermann, aber ein passabler Watson

Gefährliche Betrachtungen – der Titel des Romans spielt offensichtlich auf Manns Groß-Essay Betrachtungen eines Unpolitischen aus dem Jahr 1918 an – ist ein wunderbar leicht zu lesender Roman voller skurriler, teils erfundener, teils tatsächlich in der historischen Realität verwurzelter Charaktere. Tilo Eckardt gelingt mit ihm nicht nur eine großartige Hommage an den Autor Thomas Mann und dessen Familie, sondern auch eine spannend zu lesende Geschichte über eine Zeit, die von jedem Einzelnen Courage verlangte, um sich jenen Kräften entgegenzustellen, die aus der Geschichte nichts gelernt hatten. Wie Mann und Müller letztlich wieder an die Notizen des Dichters kommen, ist so amüsant, dass es hier nicht verraten werden soll. Allein dass bei dem gewagten Coup auch ein gewisser Adolf Hitler in einer höchst unerwarteten Rolle auftritt, stellt einen Einfall dar, für den es Žydrūnas Miuleris wirklich verdient hat, endlich die Erlaubnis zu bekommen, das Werk Thomas Manns in die Sprache seiner Heimat zu übertragen.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Tilo Eckhardt: Gefährliche Betrachtungen
Der Fall Thomas Mann
München: Droemer 2024
303 Seiten. 22 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Fast unvorstellbar

Nächster Artikel

Die Kunst des perfekten Zusammenspiels

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Mörderjagd im Nachkriegs-Wien

Roman | Karl Rittner: Die Toten von Wien

Eigentlich sucht Alexander Baran seit beinahe einem Jahrzehnt nach seiner verschwundenen Schwester Szonja. Da trifft es sich ganz gut, dass der ungarische Adlige, der eigentlich Sandor Baranyi heißt, nach dem Ersten Weltkrieg in Wien und dort bei der Polizei gelandet ist. Als Kommissär, dessen Abteilung »Verbrechen an Leib und Leben« aufzuklären hat, muss er sich aktuell freilich mit seinem Kollegen Florian Meisel um den Fall einer ermordeten Tänzerin kümmern. Bald kommen weitere Todesfälle hinzu. Und auch für die beiden Polizisten wird es immer gefährlicher. Von DIETMAR JACOBSEN

»Unrecht ist die Essenz unseres Lebens«

Roman | Christine Lehmann: Die Affen von Cannstatt Nach zehn Romanen, in denen die »Schwabenreporterin« Lisa Nerz im Mittelpunkt stand, hat sich Christine Lehmann eine kleine Pause von dieser Figur gegönnt. In ihrem aktuellen Roman Die Affen von Cannstatt erzählt sie die Geschichte einer zu Unrecht des Mordes beschuldigten Frau. Ganz ohne ihre taffe Serienheldin kommt sie am Ende freilich doch nicht aus. Von DIETMAR JACOBSEN

Schluss mit Reha, Frau Odenthal!

Film | Im TV: ›TATORT‹ Die Sonne stirbt wie ein Tier (SWR) Zum Krimi diesmal kein Wort, nein, zuallererst ist das ein Film, der mit Gewohnheiten bricht. Lena Odenthal, völlig verändert, ist auf Reha, sie häutet sich. Nein, sympathisch. Doch nicht allein Odenthal und Kopper (der telefoniert mit Maria in Italien und wie frech ist denn das, dass sie uns das nicht übersetzen), das Drehbuch wirft massiv schillerndes Personal in die Handlung. Von WOLF SENFF

Der Fall der verschwundenen Schriftsteller

Roman | Håkan Nesser: Schach unter dem Vulkan

Weil der bekannte schwedische Schriftsteller Franz J. Lunde im Anschluss an eine Lesung spurlos verschwindet, muss Gunnar Barbarotti, der in Kymlinge für die Ermittlungsarbeit zuständig ist, ran. Es ist der siebte Fall für den Nachfolger des genial-vergrübelten Kommissars Van Veeteren im Werk des 71 Jahre alten Håkan Nesser und ein ganz und gar ungewöhnlicher dazu. Denn Lunde hat ein Erzählfragment hinterlassen, in dem angedeutet wird, dass er zuletzt von einer immer wieder auftauchenden Leserin gestalkt und bedroht wurde. Viel Arbeit für Barbarotti, zumal Lunde nicht der einzige verschwundene Literat bleibt und auch im fiktiven Kymlinge die Corona-Pandemie das Leben und Arbeiten zunehmend erschwert. Von DIETMAR JACOBSEN

Es ist nicht vorbei

Krimi | Horst Eckert: Wolfsspinne Zum dritten Mal lässt der Düsseldorfer Autor Horst Eckert in Wolfsspinne seinen Kommissar Vincent Ché Veih ermitteln. Der kommt aus einer tief in die deutsche Geschichte verstrickten Familie. Der Großvater ein unbelehrbarer Nazi, die Mutter eine RAF-Terroristin, der Vater – wie man erst in diesem Roman erfährt – zunächst linksextrem, dann zur extremen Rechten konvertiert und ein Cousin aus dem thüringischen Jena als V-Mann des Verfassungsschutzes in die NSU-Affäre verstrickt. Kein Wunder, dass sich Veih mit Vorliebe in Fälle stürzt, die einen politischen Hintergrund besitzen. Auch diesmal dauert es nicht lang, bis er sich mit