Oskar wächst ohne seinen Vater auf. Was ihn für immer mit ihm verbindet, ist die Begeisterung für die fantastischen Abenteuer in den Büchern des Schriftstellers Simon Bruma. Da kann das Leben noch so grässlich sein: Oskar vergräbt sich in die Lektüre, lässt in seiner Fantasie Brumas Helden lebendig werden – und schreibt selbst Geschichten für diese Helden. Doch dann bietet sich ihm eine ungeahnte Möglichkeit. Von ANDREA WANNER
Der Junge hat es nicht leicht. Mit seinem Stiefvater versteht er sich gar nicht gut und immer öfter stellt sich auch seine Mutter auf dessen Seite. Er meine es nur gut mit ihm. Das Verhältnis zu seiner kleinen Schwester ist prima. Sie teilen sich ein Zimmer und Oskar liest ihr aus seinen Büchern vor. Sie kennt auch seine Schreibambitionen – über die von seinen Klassenkameraden nur gelacht wird. Und als es einen Schreibwettbewerb gibt, hat Bibi einen nicht unbedeutenden Anteil daran, dass Oskars Beitrag auch dort ankommt. Die Aufgabe lautet, die beste Lüge aufzuschreiben, die einem einfällt. Und Oskar gewinnt. Er hat das Gefühl, das große Los gezogen zu haben, denn er darf einen Fantasy-Schreibkurs bei Simon Bruma besuchen.
Das Hochgefühl macht etwas anderem Platz, als er mit Simon in Neblina ankommt. Alles ist merkwürdig. Der Nebel, die Kühle, das riesige Haus voller seltsamer Geräusche, Simons Tochter November … Die erste Nacht wird furchtbar und Oskar will nur noch eines: nach Hause. Aber dann erfährt er den wahren Grund für seine Anwesenheit: Wer soll November retten. Wie das passieren soll? Dadurch, dass er schreibt.
Der spanische Schriftsteller, Übersetzer und Drehbuchautor Jesús Cañadas hat ein unglaubliches Gespür für Spannung, dunkle Momente und unerwartete Überraschungen. Er schreibt eigentlich für Erwachsene, hier ist ihm ein überaus packendes Jugendbuch gelungen. Tatsächlich schafft er es ständig erneut, die Leserinnen und Leser auf falsche Fährten zu locken – genau die, denen sein junger Held auch folgt. Oskar schreibt eine Geschichte, die sich immer mehr mit der Realität verknüpft. Cañadas spielt mit den unterschiedlichen Ebenen, lässt sie sich überlagern und zu einem einzigen großen Rätsel werden.
Das ist wunderbar umgesetzt. Das dunkle Cover, das einen Einblick in die Bibliothek in Brumas Bibliothek bietet, bei dem man schon spürt, dass da nicht alles mit rechten Dingen zugeht; die zauberhaften Vignetten; die »handschriftlichen« Ergänzungen von Oskar am Rand, die das Ganze authentisch wirken lassen; der Wechsel zwischen den Schriftarten, wenn Oskar als Ich-Erzähler berichtet und wenn er schreibt. Die Geschichte in der Geschichte ist eine wunderbare Herausforderung und fragt danach, wo die Lüge anfängt. Oskar jedenfalls ist wild entschlossen, alles für November zu tun – auch wenn sie eine furchtbare Nervensäge ist. Und so beginnt auch seine Geschichte: »Liebe Leserin, lieber Leser, seit dem Sommer, in dem ich November das Leben rettete, ist viel Zeit vergangen.« Und ganz am Ende gibt es auch die Auflösung, mit welcher unglaublichen Lüge Oskar den Wettbewerb gewonnen hat.
Titelangaben
Jesús Cañadas: Die Bibliothek der wahren Lügen
Aus dem Spanischen von Elisabeth Leuthardt
Münster: Coppenrath 2025
304 Seiten, 18 Euro
Jugendbuch ab 12
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