Jugendbuch | Patrycja Spychalski: Auf eine wie dich habe ich lange gewartet
Liebesgeschichten in Jugendbüchern waren lange Zeit Geschichten von einem Paar, das aus einem Mädchen und einem Jungen besteht. Inzwischen hat sich der Blick etwas erweitert und es gibt auch Geschichten, in denen das Paar aus zwei Mädchen oder zwei Jungen besteht. Was sich nicht geändert hat, ist die Grundüberzeugung, dass junge Menschen genau wissen, ob sie sich zum eigenen oder zum anderen Geschlecht hingezogen fühlen. Ist das wirklich so sicher? Patrycja Spychalski stellt in ihrem fünften Roman genau diese Frage. Von MAGALI HEISSLER
Laura schmollt. Ihre Eltern ziehen aufs Land und das ist für eine sechzehnjährige Großstädterin eine einzige Katastrophe. Keine Clique mehr, keine vertrauten Straßen, durch man zieht, keine bekannten Ecken, an denen man herumhängen kann. Was macht man abends auf dem Land? Da gibt es sicher nicht einmal ein Kino. Auch wenn Lauras Vater darauf besteht, dass sie in eine Kleinstadt ziehen und keineswegs aufs Dorf, ändert das nichts an dem bevorstehenden Horror!
Zuerst sieht es so aus, dass Laura richtig lag mit ihrer Einschätzung, aber dann trifft sie Enzo, der im Baumarkt arbeitet, und Irina. Enzo sieht gut aus und ist richtig nett, wie sich bald herausstellt. Laura ist gern mit ihm zusammen, es kribbelt sogar ein bisschen im Bauch, wenn er auftaucht.
Aber da ist auch Irina. Sie ist anders, fällt auf durch Kleidung, durch ihre Verhalten. Irina ist aufregend, in jeder Hinsicht, stellt Laura bald fest. Wenn sie mit Irina zusammen ist, kribbelt es nicht nur, dann fahren ihre Gefühle Achterbahn. Ist das Verliebtheit? Liebe? Erotik? Und wie steht es mit Enzo? Der will ihr auch nicht aus dem Kopf.
Andere Sichtweisen
Spychalski ist eine Autorin, die sich Zeit läßt beim Erzählen. Gerade zu Beginn braucht man bei ihr als Leserin immer Geduld. Für Lauras Geschichte wird die Geduld ein wenig zu sehr beansprucht. Straffung hätte gutgetan. Lauras gemischte Gefühle, Ärger, Traurigkeit, erste Neugier auf die neue Umgebung verschwimmen hinter einem Wortschwall über alles und jedes.
Positiv ist von Anfang an, dass Spychalski sympathische Elternfiguren präsentiert, die zugleich nicht zu Vorbildern an wahren Tugenden mutieren. Lauras Eltern sind einfach nette Menschen, mit ihren Fehlern und guten Eigenschaften. Normal, alltäglich, mit kleinen Ausrutschern, etwa, wenn die Mutter zur Zigarette greift, obwohl sie sich das Rauchen abgewöhnen will oder der Vater sich sichtlich Mühe gibt, seine Großzügigkeit nicht zurückzunehmen, als er sieht, was für ein Chaos Laura in ihrem neuen Zimmer anrichtet. Hier werden drei Menschen vorgestellt, die sich bemühen, aufs Beste miteinander auszukommen. Es gibt dabei einen kleinen Haken, ein wunderbarer Einfall, der exakt zu dem passt, was hier erzählt werden soll: eine rundum zeitgemäße Geschichte von erster Liebe.
Die andere Sichtweise auf Menschen wie Gegebenheiten zeigt sich in vielen Kleinigkeiten. Normales Maß herrscht. Niemand hier ist monströs böse, Rangeleien sind nicht gleich Mobbing, Berührungen keine unverzeihlichen Angriffe auf körperliche Unversehrtheit. Die Leute grüßen sich und sagen »danke« und »bitte«. Die Schwierigkeiten verursachen Herzweh, von dem Narben zurückbehält, aber trotzdem weiterleben kann.
Genau diese Normalität lenkt den Blick dann darauf, was anders ist hier, nämlich die Anziehung, die Laura sowohl Irina gegenüber als auch bei Enzo empfindet. Tatsächlich wird die Frage gestellt, wer bestimmt, wen man lieben soll und wieso die Orientierung immer eindeutig sein soll. Vor allem, aber warum man sich eigentlich entscheiden muss und zwar sofort. Das ist mutig für einen Unterhaltungsroman für ein so junges Publikum, und sehr nötig.
Bonbonküsse
Es ist ein sinnlicher Roman, angefangen vom leichten Duft von Mutters Zigaretten, über die Diskussion der Wandfarben, Gerüchen, Farben, Geräuschen der fremden Gegend. Gleich, ob in der Restaurantküche von Enzos Familie, dem Geschmack des ersten Kaffees auf Lauras Zunge oder dem besonderen Duft von Irinas Haar, es geht um sinnliche Erfahrung. Veganes Essen, Zimtschnecken, knallroter Lippenstift, wehende Schals bei esoterischen Tänzen, die Sinne werden vorbereitet auf das, was Laura und Irina erfahren, ihre Bonbonküsse. Das sind Kussszenen, die man sich kaum schöner wünschen kann in einem Roman. Dass das Ganze so gut wirkt, weil es klug gebaut ist, überliest man leicht vor lauter Schwelgen.
Schlüssig sind die Zeichnungen der Protagonistinnen und auch Enzos, der allerdings eine Spur zu edelmütig gerät. Man muss sich auf alle drei gleichermaßen einlassen, besonders aber auf Irina, deren schwierige Lebensumstände fast übermäßig diskret im Hintergrund gehalten werden. Aber es ist eben Laura, die erzählt und sie ist nicht die aufmerksamste Beobachterin. Sie ist eine freundliche, zugleich naive Sechzehnjährige, die sich in einer neuen Umgebung mit einem Problem herumschlagen muss, das auch Erwachsene zur Verzweiflung bringen kann, der gesellschaftlich vorausgesetzten Eindeutigkeit in der Liebe. Sie erfährt, dass Liebe vor allem eins ist, nämlich eindeutig uneindeutig.
Eine Geschichte gegen jede Erwartung, also, eine, die man sehr aufmerksam lesen muss. Aber das ist sie auch wert.
Titelangaben
Patrycja Spychalski: Auf eine wie dich habe ich lange gewartet
München: cbt Verlag 2015
318 Seiten, 9,99 Euro
Jugendroman ab 15 Jahren