Wenn die eigene Haut zu eng wird

Jugendbuch | Meme McDonald; Boori Monty Pryor: Njunjul

Irgendwann einmal ist die Welt, die bisher vertraut und Schutzraum war, klein geworden und zugleich erschreckend groß. Man möchte sich verkriechen und doch hinaus. Auch aus sich selbst will man heraus, die eigene Haut ist zu eng geworden. Meme McDonald und Boori Monty Pryor erzählen in ›Njunjul‹ von einem jungen Murri, einem Indigenen aus dem heutigen Queensland/Australien, der aus dem Kokon schlüpfen muss. Von MAGALI HEISSLER

NjunjulSechzehn ist der Junge, ein schwieriges Alter nicht für einen mit dunkler Hautfarbe. Er lebt im Happy Valley, eigentlich einem Reservat. Pläne hat er viele, Basketballstar werden ist einer davon. Zum Verwirklichen fehlt ihm der Antrieb. Zu allem anderen auch, wenn er ehrlich ist. Die Welt, in der er lebt, findet er verwirrend.

Es ist schön und gut, eigentlich sogar interessant, wenn Aunty Milly von den vierzigtausend Jahren Geschichte der Völker Australiens anfängt. Onkel Garth, der in Sidney lebt, verdient sogar Geld damit, Kindern und Jugendlichen traditionelle Lieder und Tänze beizubringen. Andererseits sind da die Erfahrungen mit den Weißen, eher schlechte, vor allem, wenn sie Polizisten sind. Einmal durchgeprügelt worden ist jeder männliche Bewohner im Happy Valley, eine dunkle Haut haben, ist Grund genug. Eigentlich möchte der Junge nichts mehr von früher hören. Er will etwas Neues. Das Neue, Aufregende, das, was aus der Ferne lockt.

Als die Familie beschließt, ihn nach Sidney zu schicken, kann er sich kaum fassen vor Begeisterung. Wenn da nur nicht auch die Angst wäre: Vor dem, was ihn dort erwarten mag.

Wer? Ich?

Mcdonald und Pryor geben ihrem sehr jungen Helden von Anfang an eine eigene Stimme. Eine recht rotzige, slangverhaftete und zugleich ein wenig ängstliche, fragend. Vergangenheit und Gegenwart zerren an ihm. Wie soll er da einen Weg in eine Zukunft finden? Die Gegenwart sieht zurzeit gut aus. In Sidney wird er mit offenen Armen empfangen. Onkel Garth ist ein Murri wie er, Tante Em Migaloo, Weiße. Das fällt eigentlich nur auf, wenn sie ihren Neffen drängt, aktiv zu werden. Sie tut es selten, ein Glück.
Onkel Garth lässt ihm seine Ruhe, hält ihn aber zurück, wen er zu schnell vorwärtsstürmt. So erlebt man als Leserin die Handlung, ein Hin und Her zwischen Aktivität und Passivität, Entschlossenheit und Unentschlossenheit.

Das Schwanken zwischen übermäßiger Energie und Schüchternheit ist überzeugend eingefangen. Immer wieder muss er sich klarmachen, dass ihn angeht, was geschieht. »Wer? Ich?«, scheint er immer zu fragen. »Bin ich gemeint?«, wenn das Neue auf ihn einstürmt.

Die Leserin hat es mindestens ebenso schwer sich zurechtzufinden. McDonald und Pryor berichten aus einem sehr fernen Land, viele Themen werden angetippt, Rassismus, Tradition und Moderne, Alltagsgewohnheiten, die nicht vertraut sind. Der Text ist durchsetzt mit fremden Ausdrücken, von Basketball bis zur indigenen Sprache. »Bin ich gemeint?«, fragt man sich auch beim Lesen und auch darauf lautet die Antwort »Ja!«. Auch die Leserin ist aufgefordert, eine Entwicklung durchzumachen.

Selbsterkenntnis

Die Schwierigkeiten, die der junge Held bewältigen muss, sind vertraut und fremd zugleich. Es gibt eine Liebesgeschichte, die aber auch die Funktion hat, die ganz andere Sicht auf die Dinge zu zeigen, die Menschen unterschiedlicher Hautfarbe haben, obwohl sie im selben Land leben. Rhonda, die junge Nachbarin, eine Weiße, lebt am besten damit, indem sie so tut, als gäbe es in der Frage keine Schwierigkeiten. Sind Onkel Garth und Tante Em nicht der beste Beweis? Das aber bewahrt die Hauptfigur nicht davor, sich damit auseinanderzusetzen, wie er zu seiner Kultur steht. Er ist fortgegangen, das Neue zu entdecken, nur um wieder das Alte zu finden. Das ist die Lehre, die ihm das Leben erteilt.

McDonald und Pryor halten sehr konsequent den Blick von Menschen mit dunkler Hautfarbe ein. Das erste Treffen mit einer Gruppe Basketballspieler, die unablässig auf ihre Hautfarbe Bezug nehmen, ist nicht nur für den Jungen verwirrend bis schockierend. Ist man doch vor lauter Toleranz gewöhnt, darüber hinwegzusehen. Es gibt einige Stellen in der Geschichte, die auch schockierende Selbsterkenntnis enthalten, wenn man genau liest. Rhonda steht für junge engagierte Weiße, die sich mit Vehemenz einsetzen für eine bessere Welt, aber die Probleme, die vor ihrer eigenen Nase liegen, nicht erkennen.

Der Text ist dicht, der Ton fremd, es ist sehr anspruchsvolle Lektüre. Es ist zudem eine Männerwelt. Nichts ist glatt hier und offensichtlich, man muss den Spuren selber nachgehen. Erst am Ende bekennt sich der Junge laut zu seinem Namen, Njunjul, Sonne. Er hat einen harten Kampf hinter sich. Wer an seiner Seite war, ebenfalls. Aber das ist bei einem besonderen Buch nicht unbedingt ein Manko.

Dass es sich bei aller Fremdheit gut liest, verdankt es auch der Übersetzerin Barbara Brennwald, die den ganz anderen Ton des australischen Englisch, Njunjuls Teenagerslang und die Wörter aus indigenen Sprachen zu einem harmonischen Ganzen im Deutschen zusammengefügt hat. Für die einzelnen Wörter gibt es ein Glossar am Ende des Buchs. Ganz großartig ist die Umschlaggestaltung.

Was wirklich schade ist, ist, dass die Fotos des Originals nicht übernommen wurden. Sie hätten Leserinnen und vor allem Leser – das ist ein Roman für junge Leser – mit der fremden Welt rascher vertraut gemacht, als es der sehr dichte Text allein kann. Gar nicht zu reden davon, dass es dem künstlerischen Konzept des Buchs Abbruch tut.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Meme McDonald/Boori Monty Pryor: Njunjul
Njunjul The Sun – Übers. von Barbara Brennwald
Basel: Baobab 2014.
Klappbroschur, 140 Seiten, 15,90 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren

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