Musik verleiht seiner Sehnsucht Ausdruck, auch wenn ihm alle Worte fehlen. Denn der junge Hannes verfügt über ein seltenes Talent, das nur ganz besondere Umstände zum Klingen bringen – oder ihm zugeneigte, wohlwollende Menschen, die den Zauber zu entfachen vermögen. An außergewöhnlichen Figuren mangelt es daher nicht in Takis Würgers anrührendem Entwicklungs- und Liebesroman Für Polina. Von INGEBORG JAISER
Beginnen die besten Geschichten nicht wie ein Märchen? Auf der Entbindungsstation liegen sie nebeneinander: hier die Abiturientin Fritzi Prager mit ihrem kleinen pausbäckigen Buben Hannes (»Er war ein dicker Säugling, der aussah wie ein Greis mit blonden Haaren oder, je nach Blickwinkel, wie eine alte rohe Kartoffel«), dort die resolute Türkin Güneş und ihre Tochter Polina mit den »schwarzen Olivenaugen«. Polina, wie die Stieftochter des Generals aus Dostojewskis Der Spieler. Mangels auffindbarer Väter und verlässlicher Realfamilien wachsen die Kinder in wahlverwandtschaftlicher Harmonie auf. Da ist der grummelige alte Zausel Heinrich Hildebrand mit seiner riesigen Villa im niedersächsischen Moor genau der richtige Ankerpunkt. Im Haus ein verstimmtes Klavier, ein alter Plattenspieler und die russischen Klassiker.
Polina verzweifelt gesucht
Während sich Polina zu einem aufgeweckten, kecken Mädchen entwickelt, erscheint der viel zu ruhige Hannes in sich gekehrt, fast retardiert. Doch er besitzt ein absolutes Gehör und saugt jeden Sinneseindruck in sich auf. Sein »erstes Wort war Mama, sein zweites Wort war Mahler.« Das Klavierspielen bringt er sich selbst bei, verwandelt unaussprechbare Empfindungen und Gefühle zu Melodien, die das Herz erwärmen. Doch als er 14 Jahre alt ist, verunglückt seine Mutter tödlich und das brüchige Paradies zerbricht.
Hannes zieht nach Hamburg zu seinem leiblichen Vater, der als neureicher Marmorhändler selbst im Herzen versteinert erscheint. Der Junge hört auf zu wachsen und kann nicht mehr Klavier spielen, weil sein Leben aus dem Takt geraten ist. Zeitlebens wird er eine halbe Portion bleiben, verborgen unter viel zu großen Kapuzenpullovern, neckisch »Hasenkopf« genannt. Doch um den Objekten seiner Bewunderung nahe zu sein, heuert er nach dem Abitur bei der Firma Transporte Forte (»wir bringen ihr Clavier sicher an alle Orte«) an. Auch wenn sich neue Wegbegleiter finden, entgleitet ihm die geliebte Polina mehr und mehr, verschwindet schließlich ganz. Und schuld daran ist nicht nur eine unverzeihbare Lüge.
Zart und poetisch
Takis Würger, dessen historisch inspirierter Roman Stella (2019) für Aufsehen und kontroverse Diskussionen gesorgt hat, lässt in Für Polina einen allwissenden, alles erspürenden auktorialen Erzähler berichten, grundiert von sanftem Erstaunen und Verwunderung und feinem Witz. Wie von einer lockenden Melodie gebannt, folgt man den unerwarteten Wendungen und Brüchen dieser wundersamen Geschichte, in der heimlichen Hoffnung auf ein Happy End. Der schmerzvolle Weg dorthin ist für Hannes nicht nur mit emotionalen Verletzungen verbunden – auch mit einem Bandscheibenvorfall, mehreren Rippenbrüchen und einem abgequetschten Finger. Und weil die besten Erzählungen immer auch ein Märchen in sich bergen, spielt Hannes am Ende selbst mit neun Fingern wie ein junger Gott Klavier.
Für Polina bezaubert durch synästhetische Eindrücke, lässt Licht wie Lindenhonig durch die Fenster fluten oder Melodien wie dunkle Winternächte im Moor erklingen. Und am Ende versteht nicht nur Hannes, »dieser große Musiker und kleine Denker, […] dass genau darin die Schönheit der Musik liegt. Nicht nur in den Noten, die zu Schallwellen werden, sondern auch im Nachhall im Inneren, der bei jedem anders ausklingen darf.« Dieser wundersame (Liebes-)Roman wird noch lange berühren: herzergreifend, herzerwärmend, voll Poesie.
Titelangaben
Takis Würger: Für Polina
Zürich: Diogenes 2025
290 Seiten. 26 Euro
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