Für die ›Frankfurter Allgemeine Zeitung‹ scheint es ein wichtiges Kriterium für gute Literatur zu sein, dass ein Buch in Deutschland erschienen ist. Anders ist es kaum zu erklären, wenn man dort über die Preisträgerin des Astrid Lindgren Gedächtnispreis lesen muss: »Noch ist kein einziges ihrer Bücher ins Deutsche übersetzt worden, aber den mit 460.000 Euro dotierten Kinder- und Jugendbuchpreis hat die französische Schriftstellerin Marion Brunet jetzt schon erhalten.« Dabei ist die ›Internationale Kinder- und Jugendbuchmesse‹ in Bologna grade für ihre Weltoffenheit bekannt, so viel ist zu entdecken, was in anderen Ländern erscheint, für sie wichtig ist. Auch dieses Jahr sind SUSANNE MARSCHALL und GEORG PATZER über die wichtigste Kinderbuchmesse der Welt gegangen.
»So!«, sagt Boris vehement. »Bisher habe ich mich noch zurückgehalten, aber jetzt ist die Schonzeit vorbei!!« Seine kleine Schwester ist begeistert, endlich kommt eine wahre Gruselgeschichte, nach den zehn, die nur zum Lachen waren: Etwa von einem verlassenen Park in der Dämmerung, durch den ein Mädchen allein gehen muss, und dann bewegen sich die steinernen Figuren; von der Frau ohne Kopf; von der menschenfressenden Monsterechse. Celeste macht nur Unsinn, findet überhaupt nichts gruselig. Findet die Geschichte mit dem Gespenst auf der Hängebrücke über der Schlucht langweilig, Kröten »so süß«, bei der Prinzessin will sie wissen, welche Farbe das Kleid hat und welche Farbe die fleischfressende Pflanze. Gruselig ist es vor allem für Boris, weil sie mit nichts zufrieden ist.

© Susanne Marschall
Das Buch ›Gutenachtgeschichten für Celeste‹ (›Hanser Verlag‹) erzählt gleich zwei Geschichten auf einmal: Auf der rechten Seite erzählt der Comic-Künstler Ole Könnecke, wie Boris versucht, Celeste zum Gruseln zu bringen, auf der linken Seite sieht man in seiner typischen akribisch-fantastischen, malerischen Art, wie Nikolaus Heidelbach Boris‘ Geschichten andeutet: Da greift eine hässliche Krallenhand schon nach dem Mädchen auf der Hängebrücke, weit sperrt die rosa Pflanze ihr Blütenmaul auf und schnappt nach der Prinzessin, grünlich glotzt das Wassermonster auf das Mädchen, das über ihm schwimmt: Gleich, gleich wird er sie sich schnappen. Aber dann unterbricht Celeste auf der rechten Seite immer: »Ich habe Durst. Bringst du mir ein Glas Wasser?« So wird das natürlich nichts mit dem Gruseln.
Gleich an zwei Ständen saßen Könnecke und Heidelbach auf der Internationalen Kinder- und Jugendbuchmesse in Bologna und signierten fleißig, denn neben der deutschen gibt es auch eine italienische Ausgabe, und offensichtlich ist sie auch in Italien beliebt: ›Niente draghi per Celeste‹ heißt sie (›Beisler Editore‹). Vielleicht liegt es auch daran, dass das Buch einen der begehrten Preise der Buchmesse gewonnen hat, ›Celeste‹ wurde mit dem Bologna Ragazzi Award in der Kategorie »Comics, Early Readers« ausgezeichnet, den renommierten Premio Strega hat das Buch auch schon gewonnen.

© Susanne Marschall
Viel hat sich geändert: Katsumi Komagata, der grandiose japanische Illustrator und Künstler, der letztes Jahr gestorben ist, hinterlässt eine Lücke, die wir auch dieses Jahr wieder schmerzlich spürten. Dass Rachael Kim, die unermüdliche Führerin durch die koreanische Bücherflut, wieder da war, hat uns sehr gefreut. Die hatten wir letztes Jahr vermisst. Wie auch die amerikanische Dichterin Zaro Weil, die eigentlich auch zur Messe kommen wollte … Nächstes Jahr in Bologna, Zaro!
Anderes bleibt gleich: Wie der Gemeinschaftsstand der koreanischen Verlage, die dieses Jahr mehrere Autoren auf einem Podium präsentierten und ihre Arbeit vorstellen ließen (Rachael übersetzte). Hier gibt es immer wieder Entdeckungen – dieses Jahr eine Verlegerin und Autorin, Yun Kim mit der ›YunEdition‹, deren auf den ersten Blick eher unscheinbares Buch auflebte, wenn man eine Lampe unter die Seiten hielt: Plötzlich erschienen Gestalten auf den Bildern und auf jedem Bild auch eine Katze.

© Susanne Marschall
Ebenso die Bücher von Suzy Lee, von ihr gingen zwei in unseren Rucksack: ›L’ onda‹ (›Edizioni Corraini‹; als ›Welle‹ im ›360 Grad Verlag‹ erschienen) und ›River, il cane nero‹ (›Edizioni Corraini‹), bereits 2019 erschienen.
Mit einfachen Zeichnungen charakterisiert Lee sehr genau typische Bewegungen von Menschen, Hunden, Vögeln, dem Meer. In ›River, il cane nero‹ erzählt sie von einem schwarzen Hund, der aus einem Käfig gerettet wird, mit den Kindern spielt und am Ende des Buchs aus Trauer im Schnee stirbt – die Kinder mussten wieder nach Hause. ›L’ onda‹ illustriert die Geschichte von einem Mädchen, das am Strand mit dem Meer spielt. Scheinbar die Wellen dirigiert, ihnen die Zunge herausstreckt, dann aber doch von einer erfasst und durchgeschüttelt wird. Klitschnass und verdattert sitzt sie am Ufer und entdeckt plötzlich, dass das Meer ihr ganz viele wunderbare Geschenke gemacht hat: unzählige Muscheln und Seesterne. Fünf Möwen sind ihre Begleiter, die sich ebenso am Spiel freuen. Eine zarte, leichte, in Blau und Schwarz-weiß gezeichnete Sommergeschichte. Und eine traurige, melancholische Abschiedsgeschichte, die Lee nach eigenem Erleben geschrieben hat und ihre beiden Kinder ein wenig getröstet hat. Jeder, der einmal einen Hund verloren hat, wird das nachempfinden können.
Und dann natürlich der Stand der ›Cambridge School of Art‹: Hier stellen die Studenten der illustrativen Kunst ihre Abschlussarbeiten aus, vieles ist eher Mainstream, aber zwischendurch gibt es immer zwei oder drei Überraschungen. Ein Buch über Tai Chi hätten wir allerdings wirklich nicht erwartet. Die junge Ping-An Shih hat keine Anleitung zum Lernen geschrieben, sondern eher den Geist eingefangen: Tai Chi fördert den Gleichgewichtssinn (»enhances your sense of balance«), sie zeigt ein Kind, wie es laufen lernt, von den ersten wackligen Versuchen mit ständigem Hinfallen und immer wieder Aufstehen bis zum Stehen auf einem Bein. In einer anderen Folge, die die Bewegung »An« (Schieben) zeigt, sieht man geradezu, wie das Zentrum des Körpers die Bewegung führt, was schwierig ist, weil es eine unsichtbare Bewegung, eine innere Bewegung ist. Ihr Buch ›Teapot Mountain‹ erzählt die Reise von drei Teetassen, die auf einen Berg steigen, weil dort der beste Tee der Welt auf sie wartet. Aufwendig hat Shih eine aufklappbare Schicht auf die andere gelegt, die die Welt beim Steigen auf den Gipfel immer wieder verändert.
Ein wunderschönes Buch über einen rothaarigen Jungen, der genau weiß, dass sein grauer, spitzohriger Hund eigentlich ein Drache ist, dessen Flügel nur nicht gewachsen sind: ›Walter the Dragon‹. Das will natürlich niemand glauben, aber der Junge hat recht. Schön einfach mit Buntstift gezeichnet von Lauren Sharples. Wie immer hoffen wir, diese Bücher dann nächstes Jahr irgendwo als richtiges Buch zu sehen …

© Georg Patzer

Solche Bücher, solche Autoren, solche Menschen entdeckt man beim Herumstreunen auf der Messe. Drei Tage lang die Blicke schweifen, sich von einem besonderen Umschlagbild anziehen lässt, alte Bekannte begrüßt, die von ihren Entdeckungen erzählen, neue kennenlernt, die ihre Projekte präsentieren, zum Nachdenken anregen, zum Fühlen und Staunen.
Hier ein großer Stand, umlagert von vielen Menschen, dort ein winziger aus Brasilien, auf dem die Autorin geduldig mit uns alle Sprachprobleme umschifft und erklärt und zeigt. Es sind solche Kontakte in alle Welt, die die Messe jedes Jahr zum Highlight des Jahres machen. (Natürlich wollen wir dann jedes Jahr auch einen Verlag gründen, um solche begeisternden Bücher in Deutschland zu veröffentlichen …)
| SUSANNE MARSCHALL
| GEORG PATZER
Titelangaben (Auswahl)
N. Heidelbach, O. Könnecke: Gutenachtgeschichten für Celeste
München: Hanser 2024
32 Seiten, 18 Euro
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Suzy Lee: Welle – Das Midibuch
Leimen: 360 Grad Verlag 2023
44 Seiten, 10 Euro
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JuLi Litkei: Da wächst doch was!
(Chut, ca pousse, 2024) übersetzt von Ursula Bachhausen
Hildesheim: Gerstenberg 2024
56 Seiten, 20 Euro
| Leseprobe
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