Ein Symbol für Freiheit, Flucht und Hoffnung

Roman | Dunya Mikhail: Das Vogel-Tattoo

Die Geschichte der zentralen Figur ihres neuen Romans über eine jesidische Familie im Nordirak, eine Jesidin namens Helen, deren Herkunftsland der Irak ist, basiert auf wahren Begebenheiten. Der Ende 2024 in deutscher Übersetzung erschienene Roman ›Das Vogel Tattoo‹ von Dunya Mikhail widmet sich den Themen Identität, Verlust und Hoffnung des jesidischen Volkes. Der Titel des Buches leitet sich von einer Liebesgeschichte zwischen Helen und Elias ab, seit dieser Zeit haben sie beide Vogel-Tattoos. Von DIETER KALTWASSER

Blätter und BlütenAls Dunya Mikhail, eine amerikanisch-irakische Schriftstellerin, Poetin und Journalistin, erfuhr, dass der IS Frauen und Mädchen auf Märkten verkauft, war sie, wie es in ihrem Vorwort zu ihrem Roman heißt, »empört und fühlte [sich] beleidigt.« Sie setzte sich mit ihren Freunden und Verwanden im Irak in Verbindung. Und sie erfuhr: »Tausende von Männern wurden umgebracht, Tausende von Frauen und Kindern aus ihren Dörfern im Nordirak, rund um die Ninive Ebene, verschleppt,« schreibt sie. Von ihren eigenen Konflikten abgelenkt, »blieb die Welt blind gegenüber dem Leid derer, die diesen erbarmungslosen und unvorstellbaren Übergriffen zum Opfer fielen.«

Wenige Frauen waren entkommen und sie wollte die Stimmen dieser Frauen hören. Durch ihre Beziehungen konnte Sie mit ihnen Kontakt aufnehmen. Sie erfuhr nun von den Jesiden, »ihren Traditionen, Festtagen und religiösen Glaubensinhalten. Wegen ihres Glaubens wurden sie vom IS als Ungläubige angesehen und verfolgt. Dunya Mikhail beschloss, in den Irak zu reisen, »nicht zu touristischen Zwecken, sondern hauptsächlich zu den Camps, in denen die Frauen lebten, die ich interviewt hatte.« Es war »zwanzig Jahre her, das sie den Irak mit einem One-Way-Ticket verlassen hatte. Sie wusste, dass es als Journalistin und Übersetzerin für den »Baghdad Observer« »eine rote Linie gab, die wir nicht überschreiten durften. Wir konnten beispielsweise weder den Einmarsch in Kuweit kritisieren noch die irakische Regierung für irgendwelche ihrer Taten und Kriege verantwortlich machen. Als Dichterin hatte ich nur überlebt, indem ich Metaphern benutzte, um von den Lesern, nicht aber von den Zensoren verstanden zu werden.«

Sie besuchte während ihrer Reise auch das Heiligtum von Lalish, das religiöse Zentrum des Jesidentums, welches im Hauptsiedlungsgebiet der Jesidinnen und Jesiden im Nord-Irak liegt. Es war für sie bewegend, Hunderte von Jesiden nach oft jahrelanger Gefangenschaft dort versammelt zu sehen. Sie hielten einander in den Armen und weinten. »Für eine Zeremonie der Wiedergeburt stiegen sie in [eine] Quelle, um sich taufen zu lassen und in ihrem Leben eine neue Seite aufzuschlagen.«

Mikhail hatte bereits in anderen Textgattungen über die Verbrechen an den Jesiden geschrieben. Die Motivation zu ihrem Roman war, »die Gefangenen auf künstlerischem Weg zu befreien und beim Erzählen der Geschichte stärker auf meine Vorstellungskraft zu setzen«. Um ein Gleichgewicht zu schaffen zu all dem Schmerz müsse sie sehr viel Schönheit kreieren; ihre beste Waffe sei ihr Schreibstift.

Die ersten Kapitel des Buches schildern reale Ereignisse, die sich seit 2014 in den vom IS besetzten Gebieten zugetragen haben, und haben einen zutiefst dystopischen Charakter. Der Roman beschreibt das von Jesiden bewohnte Dorf Halliqi, ein friedlicher Ort auf einem Berg gelegen, und dem Leben einer jesidischen Familie, das von einer Katastrophe zerstört wird. Die Protagonistin Helen verbringt dort ihre Kindheit und Jugend. Aufgrund der abgelegenen Lage des Bergdorfs ist es nicht auf Karten verzeichnet. Eines Tages begegnet ihr Elias, der die in der Gegend als heilig geltenden Vögel jagt. Elias und Helen verlieben sich. Sie heiraten und bekommen Kinder, die sie aufziehen; und sie beschließen, gemeinsam nach Mossul zu ziehen, eine Stadt am westlichen Ufer des Tigris. Das Paar führt ein bescheidenes Leben; Elias arbeitet als Journalist und Helen baut sich ihr eigenes kleines Geschäft auf. Die Idylle wird jedoch 2014 durch die Besetzung der Region durch den »Islamischen Staat« jäh unterbrochen. Helens Leben gerät aus den Fugen, als Elias verschwindet und nicht zurückkehrt. Eine extreme islamische Organisation hat die Kontrolle über das gesamte Land erlangt und ist sogar in die abgelegenen Berge vorgedrungen, in denen die beiden leben.

Mutig macht Helen sich auf, um herauszufinden, was mit Elias geschehen ist. Dabei wird sie – zusammen mit weiteren Frauen – vom IS verschleppt. Die Gefangennahme erfolgt unter Einsatz von Gewalt, wobei sie und andere Frauen als Geiseln genommen, brutal misshandelt und verschleppt werden. Wie Tausende andere Frauen wird sie von den IS-Terroristen zum Verkauf angeboten. In ihrem Vorwort beschreibt Mikhail, dass der IS im Sommer 2014 einen Sklavenmarkt zum Verkauf von Frauen in einem Schulgebäude im irakischen Mossul errichtete, den sie später auf andere Ortschaften ausweiteten und schließlich sogar ins Internet.

Die Autorin schildert die zutiefst verstörenden Erlebnisse ihrer Protagonistin Helen, die in ihren vom Krieg erschütterten Heimatort zurückkehrt. Sie beschreibt schonungslos die unsäglichen Verbrechen an jesidischen Frauen als Sklavinnen durch den »Da-esh«, die im Roman verwendete arabischsprachige Abkürzung des Islamischen Staats (IS), (abgeleitet von »Daula al-islâmîya«), die allerdings auch eine Übersetzung als »Fanatiker«, jemanden, »der anderen seinen Willen aufzwingt« oder »jemand der Zwietracht sät« zulässt und daher von den Terroristen des IS als despektierlich empfunden und abgelehnt wird. Ein triftiger Grund, gerade dieses Wort zu verwenden.

Die Autorin beschreibt die harte Realität dieser Gräueltaten und versteht es gleichzeitig, die komplexen jesidischen Bräuche und Folklore darzustellen. Diese Dualität verleiht der Erzählung Tiefe und ermöglicht es den Lesern des Romans, das Filigrane der jesidischen Kultur selbst im Kontext tiefen Leids nachzuvollziehen. Das Vogel-Tattoo steht als Symbol für Freiheit und Flucht. Der Roman schildert reale Ereignisse, die sich in den von Daesh besetzten Gebieten ereignete.

Mikhail verfasst diese Geschichte mit einer gewissen Distanz und in einem sachlichen Stil, was die emotionale Wirkung ihres beeindruckenden Romans jedoch noch verstärkt. Der Roman ›Das Vogel-Tattoo‹, der für Freiheit, Flucht und Hoffnung steht, bleibt im Gedächtnis.

| DIETER KALTWASSER

Titelangaben
Dunya Mikhail: Das Vogel-Tattoo
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2024
320 Seiten, 20 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Am Wasser hängt doch alles

Nächster Artikel

Maskerade II

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Tot oder lebendig?

Roman | M. W. Craven: Der Gourmet

Was macht ein berühmter Sternekoch im Gefängnis? Jared Keaton soll die eigene Tochter getötet haben. Doch deren Leiche wurde nie gefunden. Also vielleicht ein Ermittlungsfehler von DS Washington Poe? Doch das Gericht folgte der Argumentation des Polizisten, der Koch wanderte hinter Gitter. Sechs Jahre später taucht auf einem Polizeirevier in Cumbria eine junge Frau auf, die behauptet, Jareds Tochter zu sein, entführt von einem Unbekannten und jahrelang in einem Verlies festgehalten. Als auch noch eine DNA-Analyse die Aussage der Frau bestätigt, muss Poe noch einmal antanzen an seinem alten Dienstort im Nordwesten Englands. Und natürlich unterstützt ihn auch bei diesem verzwickten Fall wieder die brillante, aber im Umgang mit ihresgleichen nicht sonderlich geschickte Fallanalytikerin Tilly Bradshaw. Von DIETMAR JACOBSEN

Zu jung, um schon erwachsen zu sein

Roman | Bret Easton Ellis: The Shards

Sie sind in ihrem letzten Jahr an der Buckley High in Los Angeles: Bret und Debbie, Thom und Susan, Ryan und Robert, der Neue. Ein paar Monate noch, dann beginnt der Ernst des Lebens. Über den man sich auf der Schwelle zwischen Jung- und Erwachsensein noch nicht so viele Gedanken macht. Bret, der Erzähler in Ellis neuem, seinem siebten Roman, weiß nur eines: Irgendwann wird er ein Schriftsteller sein. An seinem Debüt mit dem Titel Unter Null schreibt er schon. Es soll ein Roman über das Leben von seinesgleichen werden: saturierten Jugendlichen, denen es an nichts fehlt, die sich alles leisten können, im Grunde aber nicht viel mit ihrem Leben anzufangen wissen. Aber weil sich irgendwo draußen ein Serienkiller herumtreibt und auch zwischen den Schülern der Buckley High mit dem Erscheinen eines Neuen Konflikte aufbrechen, wird dieser Herbst des Jahres 1981 letzten Endes doch mehr einer des Umbruchs als des Stillstands. Von DIETMAR JACOBSEN

Ich gehe, daher bin ich

Roman | Mike Markart: Der dunkle Bellaviri

Welcher Schriftsteller wünscht sich nicht einmal eine Zeit lang als Stipendiat in einer römischen Villa zu leben und sich ganz dem kreativen Schaffen zu widmen. In Gärten zu flanieren, an Brunnen zu sitzen und den Caffé am Morgen in einer kleinen Bar zu nehmen. Der Musenkuss scheint hier doch obligatorisch. Dass dabei trotz allem nicht immer nur künstlerischer Müßiggang herrscht, kann Mike Markart in seinem neuesten Italienroman Der dunkle Bellaviri bestätigen. Der Grazer Autor zeichnet ein Italien abseits der hell erleuchteten Fassaden, sein Blick dringt tief ins Innere des schöpferischen Ichs. Empfohlen von HUBERT HOLZMANN

Noch einmal von vorn beginnen

Roman | Håkan Nesser: Die Lebenden und Toten von Winsford Håkan Nesser ist ein Meister des stillen Thrills. Sowohl in seiner zehnbändigen Kommissar-van-Veeteren-Reihe als auch in den Büchern um seinen zweiten Serienhelden Gunnar Barbarotti hat er die krachende Action, die einige seiner nordeuropäischen Kollegen so lieben, immer vermieden. Stattdessen nahm er seine Leser mit auf eine Reise ins Innere seiner Figuren, erzeugte Spannung aus deren seelischen Bedrängnissen, unverarbeiteten Kindheitserlebnissen und nicht vergessenen Demütigungen heraus. Sein aktueller Roman Die Lebenden und Toten von Winsford begleitet eine Frau in die Einsamkeit eines kleinen südenglischen Dörfchens. Es geht um einen Neuanfang – doch

Schatten des Schicksals

Roman | António Lobo Antunes: Welche Pferde sind das, die da werfen ihren Schatten aufs Meer? Wenn der portugiesische Großmeister der Erzählkunst, António Lobo Antunes, anhebt, ein Epos über den Niedergang einer portugiesischen Stierzuchtdynastie zu schreiben, erwartet den Leser kein Roman im herkömmlichen Sinn, sondern eine meisterhafte Reise in die unbewussten Sphären der Erzählkunst, die die Untiefen der menschlichen Psyche offen legt. In ›Welche Pferde sind das, die da werfen ihren Schatten aufs Meer?‹ wirft das Schicksal der menschlichen Existenz seine Schatten auf eine alte Kulturlandschaft in Portugal. VIOLA STOCKER taucht in ein Labyrinth einer facettenreichen Vergangenheit ein.