Erinnerungen lebendig halten

Jugendbuch | Shaw Kuzki: Die weiße Laterne

Am 6. August 1945 erfolgte der US-amerikanischen Atombombenabwurf über Hiroshima, 70.000 bis 80.000 Menschen waren sofort tot. In Hiroshima gibt es alljährlich Gedenkveranstaltungen an diesen furchtbaren Tag. Ein Jugendbuch erzählt von Hiroshima, damals und heute. Von ANDREA WANNER.

Bunte eckige Laternen schwimmen auf einem dunklen FlussAm Abend dieses Tages werden schwimmende Laternen in den Fluss gesetzt, um an die Opfer zu erinnern. Nozomi schaut alljährlich dabei zu, wie ihre Mutter eine grüne Laterne mit einem Namen darauf aufs Wasser setzt und eine weiße, namenlose. Ein unhinterfragtes Ritual – bis sich die Sechstklässlerin zum ersten Mal fragt, für wen die zweite Laterne ist. Auf der grünen steht Kumiko, der Name der ersten Frau von Nozomis Vater, die an den Folgen der Atombombe starb. Aber was ist mit der weißen Laterne.

Eine fremde Frau spricht Nozomi an diesem Abend an und fragt sie nach ihrem Alter. Das Mädchen spürt die Irritation der anderen, kann sie sich aber nicht erklären. Nozomi beginnt, Fragen zu stellen. Etwas ist in Gang gekommen. Das rituelle Fest ist plötzlich voll mit Geschichte und Geschichten, mit Schicksalen und Verlusten, die nicht länger abstrakt sind, sondern mit Leben gefüllt werden.

Aus den Fragen wird ein Projekt der Kunst-AG an Nozomis Schule. Es hat das Thema »Hiroshima, damals und heute« und die Schülerinnen und Schüler setzen sich auf ganz unterschiedliche Weise damit auseinander. Vor allem aber reden sie mit Menschen, die sich noch an das Früher erinnern können, mit Zeitzeugen, die direkt betroffen waren und Kinder, Ehepartner, Eltern, geliebte Personen verloren haben. Sie schauen Fotos von vor dem Krieg mit anderen Augen an. Aus Zahlen wird etwas Greifbares, etwas, dass das Schreckliche nicht besser macht, aber die Schülerinnen und Schüler anders darüber nachdenken lässt.

Da ist die Geschichte ihres Kunstlehrers, Großeltern erzählen zum ersten Mal und Nozomi erfährt das Geheimnis der weißen Laterne. Behutsam und eindringlich zugleich erzählt die japanische Autorin Shaw Kuzki, die 12 Jahre nach dem Bombenabwurf geboren wurde, von der Katastrophe. Sie siedelt ihre Geschichte 25 Jahre nach dem Angriff an und kommt ihren Figuren sehr nahe.

Eine Besonderheit ist der japanische Untertitel des Buches, der die drei Schreibweisen zeigt, die man im Japanischen für Hiroshima nutzt: die erste steht für die Stadt vor dem Bombenabwurf, die zweite für die von der Atombombe verwüstete Stadt und die Zeichen der dritten Schreibweise stehen für die wiederaufgebaute Stadt. So entstehen drei unlösbar miteinander verbundene Orte, die eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart bilden. Eine Gegenwart, in der das Zurückliegende für alle immer Erinnerung und Mahnung sein muss.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Shaw Kuzki: Die weiße Laterne
(Hikari no utushie, 2013) Aus dem Japanischen übersetzt von Sabine Mangold
Basel: Baobab 2025
136 Seiten, 22 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ohne ihn

Nächster Artikel

Nichts wie raus!

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Bequeme Lösung

Jugendbuch | Carrie Mac: 100 schlimme Dinge, die mir bestimmt passieren Ängste kennen wir alle. Überstarke Ängste, häufig und lähmend, sind eine Krankheit, die den Betroffenen großes Leid bringt. Das kann man zum Thema eines Romans machen. Was man nicht tun sollte, ist, sich am Ende für die bequeme Lösung zu entscheiden. Von MAGALI HEIẞLER

Blinder Aktionismus – und die Folgen

Jugendbuch | Robin Stevenson: Der Sommer, in dem ich die Bienen rettete Betrachtet man die Welt, kann einer schon angst und bange werden. Boden, Meer, Wälder, Flüsse, Tiere und auch noch die Politik, alles scheint im Untergang begriffen. Dagegen muss etwas getan werden, jetzt und auf der Stelle! Die Folgen von blindem Aktionismus sind jedoch nie die, die man erwartet hat. Robin Stevenson zeigt schmerzhaft deutlich, wie und warum das so ist. Von MAGALI HEISSLER

Pechmarie und ihre Nachfolgerin Corinna-Marie

Jugendbuch | Susanne Fischer: Wolkenkönigin Ein neues Leben möchte Corinna und fängt mit einem neuen Namen an: Marie. Findet neue Freundinnen. Verliebt sich. Aber dann läuft doch nicht alles, wie sie es möchte. Denn ihre Vorgängerin war die Pechmarie. Und sie läuft in ihren Fußstapfen. »Ein gelungener Entwicklungsroman«, findet GEORG PATZER

Film statt Leben

Jugendbuch | Jenn Bennett: Annähernd Alex »Wenn das passiert, von dem ich glaube, dass es passiert, hoffe ich, dass es nicht passiert!« (Meryl Streep: Der fantastische Mr Fox (2009)). Das Treffen in Online-Foren ist eine Sache, das wahre Leben eine ganz andere. Wenn man beginnt, das eine mit dem anderen zu vergleichen, wird es kompliziert. Von ANDREA WANNER

Wer mit dem Feuer spielt

Jugendbuch | Jenny Valentine: Durchs Feuer Mit einem großen Feuer nimmt Iris Abschied von ihrem Vater Ernest. Ein Leben lang wurde sie um ihn betrogen. Als die beiden sich endlich wiedersehen, liegt er im Sterben und es bleibt nur wenig Zeit für die Wahrheit, die so ganz anders aussieht als erwartet. Von ANDREA WANNER