Kein Jahr ohne Kinderkalender, das ist klar. Auch der neue für das Jahr 2026 erzählt wieder schöne, traurige, witzige, erhellende Geschichten rund um die Sprache, die unterschiedliche Wahrnehmung unserer Welt und die wunderbare Vielfalt. Wie immer sind SUSANNE MARSCHALL und GEORG PATZER begeistert.
Die glühend rote Wolle
Ist warme Marmelade auf meiner Wange.
Die Straße eine Scheibe Eis
mit Milch, die in feinen Flocken
vom Himmel fällt.
Ich mache den Mund auf
und frühstücke ganz allein
ein Stückchen Winter.
Was für wunderschöne poetische Sprachbilder Alicia Bululú gefunden hat, um von diesem ganz besonderen Wintergefühl zu erzählen, wenn die ersten Flocken fallen. Ganz darin versunken spaziert das grünbemäntelte Mädchen mit dem knallroten Rucksack, Pudelmütze und Schal durch das Flockengestöber der Illustration von Raquel Catalina. Mit geschlossenen Augen hat sie den Kopf in den Nacken gelegt, ihre Wangen glühen, die Zunge weit rausgestreckt, um ja kein Flöckchen zu verpassen. Ein Hund mit fliegenden Ohren tollt durch den Schnee, und auch er versucht, mit seiner feuerroten Zunge den Winter einzufangen. Und hinter dem Flockenvorhang sind vage Menschen, Häuser, Bäume zu erkennen.
Dass man ein Jahr nicht ohne den Kinderkalender (nur den vom Moritz Verlag, von der Internationalen Jugendbibliothek herausgegeben!) leben kann, habe ich ja schon öfters geschrieben. Und jedes Jahr ist er überraschend anders: Dieses Jahr, 2025, ist er bunt und trommelwirbelig und witzig, der für 2026 scheint mir ruhiger, nachdenklicher, etwas mehr nach innen spürender, aber auf eine leichte und auch lustige und humorvolle Art. Und sehr sprachspielerisch aufklärend wie das Gedicht, »Was man so auf dem Boden findet«:
Die Gans suchte
Unterm Tisch und hinter dem Sofa.
Da fand sie einen kleinen Pinguin.
Der sagte Piep piep, der Vogel.
Ein Pinguin im Gedicht, warum nicht,
dachte die Gans, da ist viel Platz,
nur rein mit ihm, dem Pinguin.
Lustig ist es auch, wenn die Schwedin Lena Sjöberg in ihrem Gedicht von Zuständen in einem indischen Bus erzählt: »Platz ist leider nirgendwo. Türen öffnen, Türen schließen, die Herren drängeln, die Damen niesen« und nur der eine Herr in Ruhe seine »Indian Express«-Zeitung ausbreiten kann.
Freundschaft, Wolken und spielerische Illustrationen
Von einer wunderbaren Freundschaft zwischen einem Jungen und einem Hund erzählt ein Gedicht in Filipino in der Woche vom 18. März: »Er mag mich so sehr und ich ihn noch mehr. Drum haben wir zwei uns immer dabei.« Manchmal passen zwei Texte wunderbar zusammen, die hintereinander stehen wie die im Mai: Da sieht man die persische Schildkröte, die langsam »matt und geduldig« einherschreitet: »Die Schildkröte scheint des Bergs Urahn zu sein«, und eine Woche danach sehen wir den ägyptischen »Berg der Wolken«:
Dieser Berg und die Wolken
Sind in einem uralten Wettlauf:
Wer wird wohl zuerst am
unmöglichen Gipfel ankommen?
Mit einer der schönsten Illustrationen des ganzen Kalenders: steil ragt der rote, gelbe und lila Berg auf, mit einem grauen Schatten weit hinten in der Luft (was ja eigentlich auch schon unmöglich ist), rote, grüne, schwarze Linien deuten, ja was: Wasser, Wolken, Wind? an, schwarze Ellipsen schweben wolkig quer durchs Bild, bollern gegen den Berg, kullern herunter … eine fast abstrakte Komposition, und doch eindeutig: Berge und Wolken.
Wie überhaupt nicht nur die Gedichte, sondern auch die Illustrationen spielen: da sieht man die etwas dümmlich oder verschlafen dreinschauenden Bären, die gerade aus dem Winterschlaf hochschrecken, viel zu früh. Bei einem Gedicht auf Gooniyandi aus Australien sieht man stilisierte Pelikane auf dem Wasser, die Schwänzchen in die Höh‘ oder den breiten Schnabel weit aufsperrend, um die bunten Fische aufzufangen. Der rote Schatten eines Elefanten entpuppt sich als Schatten einer Kaffeekanne, und das Walross, das zum Walnusskuchen-Essen kam, meint danach: »Noch nie fraß ich solch leckeren Fisch!« Geschmäcker sind halt so verschieden wie die Bezeichnungen der Realität. Und man staunt über den stolz stolzierenden Herrn Glühwürmchen, den düsteren Rummelplatz, das brillierende Nordlicht, in dem man noch ein Trollgesicht zu erkennen meint.
Schön sind auch die Wörter, die man lernt: »Pirilampo« etwa, das portugiesische Wort für Glühwürmchen, das ist doch hübsch. Ich jedenfalls blättere geduldig dieses Jahr weiter und freue mich auf das nächste Jahr mit neuen Gedichten, neuen Bildern und neuen Gedanken und Gefühlen, wie vielfältig die Welt doch ist und wie vielfältig man sie wahrnehmen kann. Das schafft dieser Kalender jedes Jahr aufs Neue.
| SUSANNE MARSCHALL
| GEORG PATZER
Titelangaben
Der Kinder Kalender 2026
Mit 53 Gedichten und Bildern aus der ganzen Welt
Herausgegeben von der Internationalen Jugendbibliothek
Frankfurt: Moritz Verlag 2025
25 Euro, Für alle
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