Von Hölzken auf Stöcksken

Roman | Hubert Winkels: Die Hände zum Himmel

Der ehemalige Redakteur des Deutschlandfunks und Literaturkritiker Hubert Winkels feiert seinen 70. Geburtstag mit einem alle Genres und religiösen Erfahrungen sprengenden Mammutwerk. Von seiner puren Sprachgewalt, seinem elaborierten Plaudern über Gott und die Welt entzückt, streckt auch der Leser begeistert Die Hände zum Himmel. Von INGEBORG JAISER

Schattenzeichnung eines SteinbocksWer wagt es heutzutage noch, ein 1000-Seiten-Werk zu verfassen und auf den Markt zu bringen? Brikettschwer als Printausgabe, ressourcenheischend als digitale Version? Ein Opus Magnum, das sich allen Genrebezeichnungen verweigert: Ist es Autobiographie und Memoir, eine sehr persönlich angehauchte Kunst-, Musik- und Kulturgeschichte, „ein moderner Bildungsroman“ (wie es die Verlagswerbung propagiert) oder eine Jubiläumsausgabe zum 70. Geburtstags des Autors? Wer soll das alles lesen? Beflissene Intellektuelle, bekennende Katholiken, Freunde des Rheinlands und seiner Bräuche?

Inspiration und Animation

Und welche umfassende Klammer sollte diese vor Ideen und Themen überbordende Textsammlung zusammenhalten? Literatur wäre naheliegend für einen Kritiker, Journalisten, Publizisten, Redakteur, Moderator, Juror und bibliophilen Tausendsassa wie Hubert Winkels. Doch es kommt anders, wie sich der Autor schon zu Beginn seines Buches erinnert: »Mein vielleicht schönster Moment in der Jury des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt war der verärgerte Zwischenruf eines österreichischen Kollegen: Kommen Sie uns doch nicht andauernd mit ihrer Religion!, und zwar deswegen schön, weil von Religion oder religiösen Motiven zuvor überhaupt nicht die Rede gewesen war. Kein Heiliges weit und breit. Das Thema muss im Literarischen tief verborgen und trotzdem gehört worden sein.«

Selbst wer als Leser angesichts der physischen Wucht dieses Buches erschaudert und streckenweise kapituliert, muss erkennen: hier ist sichtlich ein Homme de Lettres am Werk, ein euphorischer Literat und Freund des schriftlich Fixierten, wortgewaltig und sprachverliebt. Einer, der von den Fundamenten des Lebens Die Hände zum Himmel reckt: keinesfalls in Anlehnung an ein frommes Kirchenlied – wie die Ahnungslosen vermuten würden – sondern an einen kölschen Karnevalsschlager. Und dabei in weit über 200 Kapiteln (oder eher Kurzgeschichten, Gedankenspielen, Lebenserinnerungen, Anekdoten, philosophischen Reflektionen, Essays?) in unverhohlen dargelegter Gelehrsamkeit und Wissensfülle förmlich »vom Hölzchen aufs Stöckchen« kommt.

Magie der Dinge

Das mag man als Leser halbwegs linear verinnerlichen – vom Rheinland aus bis zur neuen Heimat des Autors in Berlin – oder in Freestyle-Manier vom interessant klingenden Abschnitt zum nächsten springend. Hubert Winkels scheut vor nichts zurück. Weder vor Alliterationen (»Vom Kniefall zum Kniesprung«, »Hoden für die Hunde«) noch vor heiligen Mesalliancen (»Heureka und Halleluja«, »Queerkatholische Frauenbärte«). Ziegen als literarische Leitfiguren wandern mehrfach quer durchs Buch. Toten wird ausgiebig gedacht. Wie des Vaters, »dem größten FC-Köln-Anhängers auf diesem Planeten«, der mit dem Abpfiff eines legendären Spiels einen Herzinfarkt erleidet und an den Folgen stirbt. Oder der dementen Mutter, die noch bei Friedhofsbesuchen emotionalen Halt im Liedgut findet (»Du hast mich tausendmal belogen«). Von da aus ist es kein weiter Weg mehr zur eigenen musikalischen Sozialisation (Black Sabbath mit Headbanging), Reisen ins Heilige Land und anderswohin, den Spielarten des Cadavre Exquis, bewusstseinserweiternden Drogen und alkoholbedingten Jugendsünden, exzentrischen Haartrachten und Modeverirrungen, magischen Akten zwischen Stonehenge und Stagediving, Inspiration und Animation. Ebenso minimalistisch wie treffend untermalt von den oft himmelwärts aufragenden Vignetten des Zeichners Nicolas Mahler.

Die Hände zum Himmel ist – schon aufgrund seines beeindruckenden Umfangs – kein Buch, das man während einer Zugfahrt oder an einem verregneten Wochenende in einem Schwung durchliest. Es gewinnt an Reiz, wenn man es zwischendurch ruhen lässt und es je nach eigener Stimmung und Präferenzen immer wieder häppchenweise, kapitelweise genießt, wie eine feine Delikatesse. Allzu verkopfte Passagen dürfen getrost überblättert werden. Dann wird man beseelt und bereichert, ganz nebenbei mit ungeahnten Reise- und Literaturempfehlungen versehen, aus der Lektüre hervorgehen.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Hubert Winkels: Die Hände zum Himmel
Köln: Kiepenheuer und Witsch 2025
1024 Seiten. 40 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Hubert Winkels in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Poetische Sprachbilder und spielerische Illustrationen

Nächster Artikel

Ein Schuss vor den Bug

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Ambitionen und Ernüchterung

Roman | Theresa Pleitner: Über den Fluss

»Trauma spielte eine große Rolle. Ich finde es aber wichtig zu betonen, dass die Leute nicht nur traumatisiert ankommen, weil sie in den Herkunftsländern oder auf der Flucht Traumata erfahren haben. Auch die Umstände vor Ort können traumatisierend sein oder zu Retraumatisierungen führen«, erklärt die 32-jährige Theresa Pleitner, die als Psychologin in einer Unterkunft für Geflüchtete arbeitete und aus diesen Erfahrungen ihren ersten Roman geschrieben hat. Eine autofiktionale Bestandsaufnahme, die zwischen idealistischen Ambitionen und kühler Ernüchterung changiert. Von PETER MOHR

Schwärzer als die Nacht

Roman | Tom Kummer: Von schlechten Eltern

In der Vermengung von Fakten und Fiktionen hat es Tom Kummer zu halsbrecherischen Leistungen gebracht. Auch wenn Von schlechten Eltern nun die Gattungsbezeichnung Roman trägt, sind autobiographische Parallelen so offensichtlich, dass es schmerzt. Der Rest oszilliert zwischen »Black Magic Sensation«, Berner Landeskunde und der Funktionalität eines Mercedes-Bordcomputers. Von INGEBORG JAISER

Ein Haus aus Papier

Roman | Carlos María Domínguez : Das Papierhaus In seinem unterhaltsamen Roman Das Papierhaus befasst sich der argentinische Schriftsteller Carlos María Dominguez mit bibliophilen Menschen und mit Büchern. Von BETTINA GUTIÉRREZ

Wein und windige Websites

Roman | Deon Meyer: Icarus Die Leser von Deon Meyer haben mit Bennie Griessel schon einiges durchgestanden – private Enttäuschungen, Rückschläge im Beruf und Alkoholentzug. Aber immer hat sich der weiße Polizist vom Kap wieder aufgerafft. Und er hatte Menschen, die ihm dabei zur Seite standen. Befreundete Kollegen, die Sängerin Alexa Barnard, mit der er liiert ist, seine beiden Kinder, zu denen er losen Kontakt hat. Doch als er im aktuellen Roman Icarus erleben muss, wie einer seiner Kollegen sich selbst, seine Frau und seine beiden Töchter erschießt, weil er die eskalierende Gewalt um sich herum nicht mehr ertragen kann,

Alles zerstört

Roman | Thilo Krause: Elbwärts

»Es gab ein reibendes Geräusch, ein dumpfes Schlagen und Schaben. Ich weiß nicht mehr, ob Vito schrie oder ob ich ihn nicht habe schreien hören«, heißt es im Romandebüt Elbwärts des 43-jährigen Thilo Krause, der in Dresden geboren wurde und seit einigen Jahren in Zürich lebt. Von PETER MOHR