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Spuren der Vergangenheit auffinden

Thema | Ursula Krechel erhält den Georg-Büchner-Preis

Es ist eine Art Ritterschlag in der deutschsprachigen Literatur, wenn ein(e) Autor(in) mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wird. In diesem Jahr geht die bedeutende und mit einem Preisgeld von 50.000 Euro dotierte Auszeichnung an die 77-jährige Schriftstellerin Ursula Krechel. Von PETER MOHR

Die Darmstädter Jury würdigte ihre fortwährende Auseinandersetzung mit den »Verheerungen deutscher Geschichte«. Krechels facettenreiches Werk rege dazu an, »die Spuren der Vergangenheit im Alltag der Gegenwart aufzufinden und das Hier und Jetzt der deutschen Gesellschaft nicht hinzunehmen«, hieß es weiter in der Begründung der Jury weiter.

Ihre Romantrilogie, bestehend aus den zwischen 2008 und 2018 veröffentlichten Werken ›Shanghai fern von wo‹, ›Landgericht‹ (2012 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet) und ›Geisterbahn‹, sei eine große Erzählung der Vertreibung und Verfolgung von Juden und Sinti. Mit dem Roman ›Landgericht‹ war Krechel 2012 endgültig der Durchbruch gelungen. Im Mittelpunkt des Romans steht ein jüdischer Richter, der 1947 aus dem Exil in Kuba nach Deutschland zu seiner Familie zurückkehrt und daran zugrunde geht, als ihm die Wiederherstellung seiner Reputation versagt bleibt.

Gedichte, Theaterstücke, Hörspiele, Romane und Essays – das Werk der am 4. Dezember 1947 als Tochter eines Psychologen in Trier geborenen Schriftstellerin ist von einer außerordentlich großen Bandbreite. Ihr Studium in Köln schloss sie 1971 mit der Promotion über den Dramaturgen und Regisseur Herbert Ihering ab. Danach war sie als Dramaturgin in Dortmund tätig und leitete Theaterprojekte mit jugendlichen Strafgefangenen. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit lehrte sie als Gastprofessorin unter anderem am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, an der Universität der Künste in Berlin und war mehrfach Writer-in-Residence im In- und Ausland. Ursula Krechel lebt mit ihrem Mann Herbert Wiesner, langjähriger Leiter des Berliner Literaturhauses, seit vielen Jahren in Berlin. Die frühere Ehrenpräsidentin des PEN-Zentrums Deutschland hatte den Schriftstellerverband 2022 im Zuge einer Kontroverse um den damaligen Präsidenten Deniz Yücel verlassen.

In ihrem aktuellsten Werk, dem im Januar erschienenen Roman ›Sehr geehrte Frau Ministerin‹, setzt sich Krechel anhand von drei höchst unterschiedlichen Frauenbiografien mit den teilweise abgründigen Beziehungen von Söhnen zu ihren Müttern auseinander. Eine fiktive Justizministerin, eine mittellose Kräuter-Verkäuferin und eine ambitionierte Lateinlehrerin stehen im Mittelpunkt. Ich-Erzählerin ist die Lehrerin, die mit ihren Schülern die »Annalen« des römischen Historikers Tacitus aufarbeitet. Sie liest mit ihrem Lateinleistungskurs nicht nur Tacitus, sondern inspiriert ihre Eleven auch dazu, die römische Geschichte gegen den Strich zu interpretieren.
Die folgenschwere Beziehung Agrippinas zu ihrem Sohn Nero, der seine Mutter ermorden ließ, hat es ihr besonders angetan. »Ein Sohn ist immer ein Risikofaktor«, so lautet die Quintessenz aus dem reizvollen Ausflug in die Geschichte.

Die zweite Protagonistin Eva Paterak verkauft sündhaft teure und mit aggressiver Werbung angepriesene Bio-Kräuterprodukte, die sie sich selbst nicht leisten kann. »Es hat mich ihre Normalität interessiert«, erklärte Ursula Krechel über die gleichermaßen macht- wie mittellose Frau.

Eine Person, deren Kopf man nicht sieht, trägt einen roten Mantel und rote LederhandschuheIn einer völlig anderen Welt lebt die Ministerin. Ursula Krechel porträtiert Repräsentantinnen unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus, einzig verbunden durch das Frausein in einer patriarchalen Lebenswelt und ihre Erfahrungen mit physischer und psychischer Gewalt. »Die Frauen stehen für verschiedene Haltungen zur Realität und die Auseinandersetzung mit Gewalt«, hatte Ursula Krechel in einem SWR-Interview erklärt. Die Ministerin erhält zunächst anonyme Briefe und wird später vor ihrem Haus Opfer einer Messerattacke. Ein ebenso intelligenter wie feinfühliger Roman.

Der mit 50.000 Euro dotierte Georg-Büchner-Preis wird am 1. November im Staatstheater Darmstadt an Ursula Krechel verliehen. Der Darmstädter Jury darf man zu dieser Wahl aufrichtig gratulieren.

| Abbildung: Amrei-Marie, Ursula Krechel 26.8.2018, Crop von TITEL, CC BY-SA 4.0

Titelangaben
Ursula Krechel: Sehr geehrte Frau Ministerin
Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2025
360 Seiten, 26 Euro
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