Die deutsch-deutsche Geschichte mit all ihren gegensätzlichen Befindlichkeiten, die sie entfachte, wird den inzwischen 81-jährigen Schriftsteller Christoph Hein (vermutlich) nicht mehr loslassen. Von PETER MOHR
»Nach 1989 gab es eine ungeheure Dämonisierung der DDR, jetzt eine rosarote Verklärung. Das würde ich mit Humor und Gelassenheit nehmen. Wer wirklich etwas über die DDR erfahren will, der muss Bücher lesen, die in dieser Zeit geschrieben wurden«, erklärte Hein vor einigen Jahren und empfahl in diesem Zusammenhang die Lektüre seines eigenen Romans Horns Ende (1985).
Christoph Hein, der seit einigen Jahren in Havelberg (110 km nordwestlich von Berlin gelegen) lebt, hatte es schon in den frühen 1980er-Jahren auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze zu respektablem Ruhm gebracht. Die Figur der eigenwilligen, gefühlskalten Ost-Berliner Ärztin Claudia in der Novelle Der fremde Freund, die im Westen unter dem Titel Drachenblut (1982) erschienen war, machte ihn in der Bundesrepublik schlagartig bekannt.
In seinem neuen Roman hat er an der Zeitachse entlang erzählt: Juni-Aufstand, Mauerbau, Prager Frühling, der Machtkampf zwischen Ulbricht und Honecker und der Fall der Mauer. Es liest sich wie eine Geschichtsstunde aus der Vogelperspektive, von oben drauf geschaut – ohne wirklichen Tiefgang und detailliert gezeichnete Figuren. Und dennoch schafft Hein es, durch die über zwei Generationen hinweg miteinander verwobenen Biografien ein gehöriges Maß an Spannung und eine Art Sogwirkung zu entfachen.
Da ist der Ökonom Karsten Emser, der lange Exilant in Moskau war und nun Mitglied im Zentralkomitee der SED ist und es bis zum Ende der DDR auch geblieben ist. Die zweite markante Hauptfigur des Romans ist der Bergbau-Ingenieur Johannes Goretzka, der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft vom Nazi zum Kommunisten umerzogen wurde und von einer großen Karriere im DDR-Machtapparat träumt. Vom glühenden Nationalsozialisten wandelt er sich zum unreflektierten Bewunderer Stalins. Dann gibt es noch Benaja Kuckuck, die blasseste der Hauptfiguren – ein homosexueller Shakespeare-Experte, der seine Professur in Tübingen verloren hatte, nach Frankreich emigriert war und später in Ost und West kritisch beäugt wurde.
Am Ende des opulenten Romans, also nach der Wiedervereinigung, findet die inzwischen 47-jährige Kathinka (Goretzkas Tochter) beim Aufräumen eine Postkarte wieder, die sie als kleines Kind gemeinsam mit dem ersten DDR-Regierungschef Wilhelm Pieck zeigte. Sie küsst die Postkarte und zerreißt sie danach. Ein symbolisches Finale, denn mit dem Bild der jungen Kathinka hatte Christoph Hein sein erzählerisches Panorama begonnen. Der Untergang der DDR fällt für Emser und Goretzka zusammen mit Krankheit und Tod. Christoph Hein setzt diesmal besonders stark auf die Karte Symbolik.
Er beschreibt Angehörige der sozialistischen Elite, Funktionäre in gehobenen Positionen, Machtkämpfe, Intrigen, Denunziationen und Parteigehorsam und die damit verbundenen inneren Kämpfe, die die Hauptfiguren über mehrere Jahrzehnte hinweg austragen. Der Romantitel hat programmatischen Charakter. Es waren zwiespältige und unsympathisch gezeichnete Narren, die das im Dauerschaukeln befindliche Staatsschiff steuerten.
Wie ferngesteuerte Fremde wirken Emser und Goretzka in ihren Familien, Empathie und Emotionen haben keinen Platz im Alltag. Die totalitäre Ideologie wird im kleinen Kreis (zumindest unterbewusst) weitergelebt. Gesellschaft und Privatleben sind kaum voneinander zu trennen. So dreht sich im Narrenschiff alles um Schuld, Verantwortung und Lebensläufe, die durch politisch-gesellschaftliche Einflüsse maßgeblich geprägt wurden.
Der versierte Theaterautor Christoph Hein erzählt in einer wenig spektakulären, beinahe reportagehaften Sprache, die ihren Glanz aus unzähligen, authentisch klingenden Dialogen bezieht. Äußerst pointiert hat Hein seinen Roman selbst präzise resümiert: »Es ist dieses Doppeldeutige. Es sind nicht Verbrecher, sondern Narren, was auch etwas Freundliches hat. Es erzählt von der Hoffnung dieser Leute, dass sie eine unsinnige Hoffnung hatten und scheitern mussten. Aber da schwingt noch ein bisschen Anerkennung für ihre Hoffnung mit.«
Titelangaben
Christoph Hein: Das Narrenschiff
Berlin: Suhrkamp 2025
751 Seiten, 28 Euro
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