Der neue Roman des französischsprachigen Schweizer Bestsellerautors Joël Dicker (Jahrgang 1985) spielt in dessen Geburtsstadt Genf. Rund um einen spektakulären Raubüberfall auf ein Juweliergeschäft baut Dicker in ihm die Geschichte zweier Ehepaare aus dem Nobelvorort Cologny auf. Die Brauns, Arpad und Sophie, beide 40 Jahre alt, und Greg und Karine Liégean, ein wenig älter und lange nicht so gut betucht wie die anderen beiden, sind seit Arpads letztem Geburtstag miteinander befreundet. Es scheint eine heile Welt zu sein, in der die Paare mit ihren je zwei Kindern leben. Doch schnell wird klar, dass das Paradies Risse hat. Risse, die weit in die Vergangenheit von Dickers Protagonisten zurückreichen und in der Gegenwart über die Macht verfügen, das Idyll jederzeit platzen zu lassen. Von DIETMAR JACOBSEN
Greg ist mit Karine verheiratet. Doch sein Interesse gilt mehr Sophie. Die ist eine erfolgreiche Anwältin und die bildschöne Frau seines neuen Freundes, des Bankers Arpad. So oft es Greg ermöglichen kann, beobachtet er die 40-Jährige im »Glashaus« des Paares am Rande des Nobelvororts Cologny. Beim Ankleiden und Kaffeetrinken am frühen Morgen oder beim ehelichen Sex in den Abendstunden – dem bei einer Spezialeinheit der Polizei beschäftigten Greg entgeht nichts. Bis eines Tages, während er seinen Beobachtungsposten am Rand eines nahe gelegenen Gehölzes bezogen hat, sein Handy klingelt und Sophie auf den ihr Haus ausspähenden Mann aufmerksam wird. Zum Glück für Greg hat sie ihn, der sich blitzschnell zurückgezogen hat, nicht erkannt. Im Gegenteil: Gerade weil er ihr als Polizist Vertrauen einflößt, erhofft sich Sophie von ihm mehr Hilfe gegen den unbekannten Spanner, als die schnell herbeigerufenen Beamten ihr zu geben vermögen. Ein Dilemma, aus dem Greg freilich schnell neue Vorteile zu ziehen versteht.
Der Spanner und die Anwältin
Joël Dicker (Jahrgang 1985) gilt spätestens seit seinem Roman Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert (2012, deutsch 2013) als Autor mit Bestsellergarantie. Der in Genf Geborene gründete bereits im Alter von zehn Jahren eine sich umweltpolitischen Fragen widmende Zeitschrift. 2010 dann schloss er ein Studium der Rechtswissenschaften erfolgreich ab und veröffentlichte im selben Jahr, nachdem er fünf Jahre zuvor mit der Novelle Le Tigre literarisch debütiert hatte, einen ersten Roman. Ihm folgten bis dato sechs weitere Bücher. Und obwohl die Urteile der Kritik einerseits auf genial, andererseits auf trivial hinausliefen, scherte sich Dickers Publikum weltweit wenig um die Aussagen der Fachfrauen und -männer. Auch enorme Verkaufszahlen, Übersetzungen seiner Bücher in mehr als 40 Sprachen und zahlreiche renommierte Preise sprachen eher für den Autor.
Mit Ein ungezähmtes Tier jedenfalls bleibt Joël Dicker seiner erfolgreichen Methode auch in seinem siebenten Roman treu. Das Buch kommt als eine Mischung aus Kriminal- und Ehegeschichte daher, baut seine Spannungsbögen trickreich auf und spielt geschickt mit unterschiedlichen Zeitebenen, wie das aufmerksame Leserinnen und Leser von diesem Autor längst gewöhnt sind. Am nächsten an die Gegenwart heran rückt es dabei mit jenem Erzählfaden, der sich minutiös dem Überfall auf einen Genfer Juwelierladen am 2. Juli 2022 widmet. Von hier aus geht es zunächst 20 Tage zurück und zu der Geschichte, die die Brauns und die Liégeans miteinander verbindet und in die nach der anfänglichen Euphorie ganz allmählich Neid, Missgunst und Misstrauen, später auch Hass Einzug halten. Was nicht zuletzt daran liegt, dass Dickers vier Helden mehr mit dem Millionenraub, der die ganze Stadt in Aufregung versetzt, zu tun haben, als es zunächst den Anschein macht.
Der Millionenraub
Wieder einmal nötigt die Raffinesse, mit der Joël Dicker in seinem Roman Spannung erzeugt und die Erwartungen seiner Leserinnen und Leser ein ums andere Mal ins Leere laufen lässt, Bewunderung ab. Was die Ehepaare Braun und Liégean mit dem Millionenraub zu tun haben, bleibt zunächst genauso im Dunkel wie die Rolle des geheimnisvollen fünften Protagonisten der Geschichte. Fauve nennt sich der, besitzt das gleiche geheimnisvolle Panther-Tattoo wie die schöne Sophie und hat in der Vergangenheit des erfolgreichen Pärchens offensichtlich einmal eine Rolle gespielt, an die sich die beiden nicht mehr so gern erinnern wollen. Aber weil er Dinge über Arpad und Sophie weiß, die ihm die Macht geben, den Banker und die Anwältin in seine aktuellen Pläne mit einzuspannen, wird es bald schon ziemlich brenzlig rund um das Zuhause der beiden.
In Letzteres hat der Elitepolizist Greg, seine neue Vertrauensstellung als Jäger eines anonymen Spanners ausnutzend, inzwischen hochmoderne Überwachungstechnik eingebaut. Und wird mit deren Hilfe nicht nur zum Augen- und Ohrenzeugen der einen oder anderen intimen Begegnung der Ausgespähten, sondern erfährt auch nach und von einem Plan, dessen Vereitelung ihm als Polizist nicht nur Ruhm und Ehre, sondern mit Sicherheit auch einen Karrieresprung einbringen würde. Und so nehmen die Dinge ihren Lauf, der natürlich – wie immer bei Dicker – einer ist, den niemand der Beteiligten im Vorhinein geplant hat.
Ein raffiniertes Verwirrspiel
Dass sowohl Sophie und Arpad Braun – das Ehepaar firmiert an mehreren Stellen auch unter dem Namen »Brown«, eine Nachlässigkeit, die vielleicht auf die Arbeit von zwei Übersetzerinnen zurückgeführt werden kann – wie auch die beiden Liégeans in das Verbrechen vom 2. Juli, bei dem Diamanten im Wert von mehreren Millionen Schweizer Franken erbeutet werden, verstrickt sind, ist relativ früh zu erahnen. Das hat viel mit der in Rückblenden transparent werdenden Vorgeschichte der Brauns zu tun, die das saubere Image, dass die Familie zu Beginn des Romans noch zu haben scheint, allmählich in Frage stellt.
Doch auch was den Ablauf des Diamantencoups selbst angeht, hält Dicker bis zum Ende noch mehrere dicke Überraschungen bereit. Über die Tatsache, dass der Text sich einer allzu schlichten Sprache bedient, indem der Autor mit kurzen Sätzen jeweils sofort auf den Punkt kommt, ohne sich sonderlich um Tiefgang oder die psychologische Unterfütterung des Verhaltens der einzelnen Figuren zu kümmern, sollte man eingedenk des bis zur letzten Seite funktionierenden Spannungsbogens wohl besser hinwegsehen. Denn vielleicht lässt sich das Tempo, mit welchem der Text die Zeiten wechselt und von einer Wendung zur nächsten springt, nur auf diese Weise sprachlich erzeugen.
Titelangaben
Joël Dicker: Ein ungezähmtes Tier
Aus dem Französischen von Michaela Meßner und Amelie Thoma
München: Piper 2025
426 Seiten, 26 Euro
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