»Man muss meine Heldinnen nicht unbedingt mögen, sondern sollte sie bloß verstehen. Mir sind selbstgerechte Menschen immer ein wenig suspekt, in bestimmten Situationen ist fast jeder zu einer Straftat fähig«, hatte die Schriftstellerin Ingrid Noll vor drei Jahren in einem Interview erklärt. Von PETER MOHR
Ihre Produktivität ist bewundernswert, ihre dichterische Fantasie scheint nicht zu versiegen. Noch immer publiziert sie (trotz des fortgeschrittenen Alters) regelmäßig neue Romane. Beachtlich ist, dass sich Ingrid Noll für ihren neuen Roman ein 15-jähriges Mädchen zur Hauptfigur auserkoren hat.
Luisa kam als Kleinkind aus Peru nach Deutschland, wurde adoptiert und in einem gut situierten Elternhaus auf. Die Protagonistin bekam von Noll eine (leicht märchenhafte) Besonderheit mit auf den Weg: Sie kann im Dunkeln sehen – eine Eigenschaft, die sie in die Nacht hinauszieht, wo sie gern und ausgiebig abseits der bürgerlichen Pfade auf Erkundungstour geht.
Dort entdeckt sie den obdachlosen Tim, versorgt ihn und versteckt ihn schließlich im Haus. Musterschülerin Luisa, die in der Schule leicht verächtlich wegen ihrer Herkunft Inka genannt wird, fühlt sich zu Tim hingezogen – eine Mischung aus Sympathie und Mitleid scheint der Antrieb zu sein. In ihr wuchs der Wunsch nach der Schule Sozialarbeiterin werden zu wollen, und sie beschließt, an Tim »schon einmal zu üben«. Doch diese Begegnung wird verhängnisvoll. Luisa wird zu einer Art Komplizin, verstrickt sich immer stärker in ein zunächst undurchschaubares Geflecht aus Lügen und Kriminalität und führt quasi ein Doppelleben als erfolgreiche Schülerin und folgsame Adoptivtochter einerseits und Komplizin eines Kriminellen andererseits.
»Ich weiß, dass ich in diesem Alter furchtbar viel heulen musste und selber nicht richtig wusste, warum eigentlich«, erinnert sich Noll an ihre eigene Jugend«, hatte Ingrid Noll kürzlich in einem Interview über ihren neuen Roman erklärt.
Ohne Pathos und sentimental-kitschige Anflüge gelingt es Ingrid Noll, die Lebens- und Gefühlswelt des Teenagers Luisa feinfühlig nachzuzeichnen.
Ingrid Nolls eigener Lebensweg würde selbst Stoff für einen ausgewachsenen Roman hergeben.. Sie wurde am 29. September 1935 in Shanghai als Tochter eines Arztes geboren, wuchs in Nanking auf, wo sie auch die Schule besuchte, ehe sie 1949 mit ihren Eltern nach Deutschland kam, das Abitur machte und dann in Bonn Kunstgeschichte und Germanistik studierte.
Sie führte ein unauffälliges Leben, »die Heirat rettete mich vor dem Lehrerberuf«, half ihrem Mann, einem Arzt, in der Praxis, zog drei Kinder groß und hatte die Fünfzig überschritten, als sie zu schreiben begann. »Als die Kinder aus dem Haus waren, hatte ich zum ersten Mal seit Langem ein Zimmer für mich allein. Und ich fing erst vorsichtig und tastend und dann immer energischer an, mich in eine Schriftstellerin zu verwandeln«, erinnert sich die Erfolgsautorin an ihre Anfänge.
Mit ihrem 1991 erschienenen Debütroman ›Der Hahn ist tot‹ stürmte Ingrid Noll sofort die Bestsellerlisten. Ein neuer, etwas unkonventioneller Stern am deutschen Krimi-Himmel war aufgegangen. Auch die nachfolgenden Werke (alle bei Diogenes erschienen) ›Die Apothekerin‹ (1994), ›Kalt wie der Abendhauch‹ (1996), ›Selige Witwen‹ (2001) und ›Rabenbrüder‹ (2003) fanden reißenden Absatz, wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt und machten Ingrid Noll zur meist gelesenen deutschsprachigen Krimi-Autorin.
Ihr neuer Roman ›Nachteule‹ bietet wieder eine angenehm leichte Lektüre, ein unspektakulärer, aber tiefsinniger Krimi mit wohldosiertem schwarzen Humor. Statt Blutlachen dominieren bei Ingrid Noll fein geschliffene Menschenbilder und jede Menge Lebensweisheit. Man muss sich nicht genieren, wenn man offen gesteht, dass man sich von der Grande Dame des deutschen Krimis auf perfekte Weise unterhalten fühlt.
Titelangaben
Ingrid Noll: Nachteule
Zürich: Diogenes Verlag 2025
304 Seiten, 26 Euro
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