Geld ist Macht

Roman | Mieko Kawakami: Das gelbe Haus

»Keiner meiner Gedanken, keine meiner Erinnerungen hatte Gewicht. Dinge, an die ich mich hätte erinnern sollen, gab es nicht. Dinge, über die ich hätte nachdenken sollen, gab es vielleicht, aber ich wusste gar nicht, wie man das machte, nachdenken«, befindet Hana, die Protagonistin Mieko Kawakamis neuem Roman. Von PETER MOHR

In Hanas Leben ist so ziemlich alles schiefgelaufen. Schule, Familie, späteres Berufsleben – eine endlose Ansammlung von Katastrophen. Die 48-jährige japanische Erfolgsschriftstellerin Mieko Kawakami, die mit ihrem Roman Brüste und Eier (dt. 2020) einen internationalen Bestseller gelandet hatte, berichtet in ihrem neuen Roman, der ursprünglich in Fortsetzungen in der japanischen Tageszeitung »Yomiuri Shimbun« erschienen war, wieder einmal vom Rand der Gesellschaft und nimmt damit einen thematischen Faden aus den Vorgängerwerken Heaven (2022) und All die Liebenden der Nacht (2023) wieder auf.

Zu Zeiten der Pandemie wird Hauptfigur Hana – inzwischen um die vierzig – durch einen Kriminalfall an ihre Vergangenheit erinnert. Die zwanzig Jahre ältere Kimiko, eine Mischung aus großer Schwester und Ersatzmutter, steht wegen Freiheitsberaubung und Misshandlung einer jungen Frau vor Gericht. Sie hatten vor vielen Jahren gemeinsam eine zwielichtige Bar geführt, die eines Tages in Flammen stand. Durch Kimikos Gerichtsprozess werden bei Hana Erinnerungen an ihre Jugend wieder wach, und vor ihren Augen läuft eine Art Lebensfilm ab.

Hana war immer eine Außenseiterin, wurde in der Schule gemobbt, wuchs ohne Vater und ohne Geld auf, ihre Mutter jobbte in Bars und verschwand immer wieder für kurze Zeit. Die Protagonistin war siebzehn, als sie peu à peu auf die schiefe Bahn geriet. Sie beschafft sich durch erfolgreiche Scheckkartenbetrügereien nicht nur etwas Geld, sondern gewinnt auch Anerkennung in ihrer Clique aus gestrandeten jungen Frauen. Die ältere Kimiko fungiert als »Chef« der Gruppe. Immer fehlt Geld, die Jobs sind meistens nur für kurze Zeit, die Rechnungen stapeln sich, Schulden häufen sich an. Die Frauen entpuppen sich als Überlebenskünstlerinnen. Sie ziehen gemeinsam in ein herunter gekommenes Haus, das ihnen der Vermieter der »Lemon«-Bar überlässt und das sie notdürftig renovieren, inklusive einer gelben Ecke, weil das Feng-Shui besagt, dass Gelb Geld anzieht. »Geld ist Macht, Armut ist Gewalt«, sagte Vivsan, eine der Mitbewohnerinnen.

Hana rutscht immer tiefer in eine kriminelle Parallelwelt, aus der es scheinbar kein Zurück mehr gibt. »Sie haben keine Familie, keine Verbindung zum normalen Leben, kommen von wer weiß woher, und wenn sie von heute auf morgen verschwinden, kräht kein Hahn nach ihnen.«

Mieko Kawakamis neuer Roman changiert behutsam zwischen spannendem Krimi und knallharter Milieustudie. Sie buhlt weder um Mitleid noch entblößt sie ihre leidenden Figuren. Sie hat präzise beobachtet und schreibt in einer glasklaren, bisweilen reportagehaften Sprache. »Ich wollte herausfinden, wie eine ,Breaking Bad‘-Geschichte aussieht, wenn sie nicht so ein Macho-Drama ist«, erklärte Kawakami der »New York Times« in einem Interview zu ihrem neuen Buch. In Das gelbe Haus verleiht Mieko Kawakami Menschen vom Rand der Gesellschaft eine Stimme. Man kann ihre Wut auf die beschriebenen Verhältnisse förmlich in jeder Zeile heraushören. Ein tieftrauriges und bedrückendes Buch, in dem die Solidarität der Geschundenen und die Omnipräsenz der Hoffnungslosigkeit zentrale Motive sind.

| PETER MOHR

Titelangaben
Mieko Kawakami: Das gelbe Haus
Aus dem Japanischen von Katja Busson
Köln: Dumont 2025
518 Seiten. 26 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Mieko Kawakami in Titel kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Und kein Ende…

Nächster Artikel

Vorbildfunktion

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Fröhlich durch den Diskursdschungel

Roman | Mithu M.Sanyal: Identitti

»Das letzte Mal, als ich den Teufel gesehen habe, war er nackt, sichtlich sexuell erregt und eine Frau. So viel zu sozialen Gewissheiten.« Mit diesen Sätzen beginnt der fulminante Debut-Roman von Mithu M.Sanyal, und sie sind Programm: Am Ende der Lektüre haben wir als Leser*innen viele unserer sozialen Gewissheiten in Frage gestellt. Von SIBYLLE LUITHLEN

Reisen mit leichtem Gepäck

Roman | John von Düffel: Der brennende See

Vom Tod eines Menschen und allmählichen Verschwinden des Wassers handelt der neueste Roman des Schriftstellers und Langstreckenschwimmers John von Düffel. Dabei ist Der brennende See keine überzogene Dystopie, sondern ein Abbild dramatischer Entwicklungen unter dem Eindruck der Klimaveränderung. Und immer stellt sich die elementare Frage: Welches Erbe treten wir an? Von INGEBORG JAISER

Auf dem Weg ins Glück

Roman | Jan Brandts: Tod in Turin »Das viele Geld hat mich satt und träge werden lassen«, heißt es in Jan Brandts stark autobiografisch gefärbtem Band ›Tod in Turin‹. Vor vier Jahren hatte der heute 41-jährige, aus dem ostfriesischen Leer stammende Autor mit seinem gigantischen 900-Seiten-Debütroman ›Gegen die Welt‹ direkt den Sprung in die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Es war ein gewaltiger Roman, der den Nerv des Zeitgeistes zu Beginn der 2010er Jahre außergewöhnlich präzise traf, ein Epos mit depressiver Grundstimmung im XXL-Format. Von PETER MOHR

Schlaflos in Venedig

Roman | Leïla Slimani: Der Duft der Blumen bei Nacht

Die Sehnsucht nach Stille und Rückzug, nach klösterlicher Klausur, gehört wohl zu allen Schriftstellerfantasien und begleitet Leila Slimani bis zum Kreuzungspunkt zwischen Orient und Okzident. Der Duft der Blumen bei Nacht beschwört die Kraft der Poesie und der Literatur, entführt in entschwundene Gefilde und doppelte Identitäten. Von INGEBORG JAISER

Tot oder lebendig?

Roman | M. W. Craven: Der Gourmet

Was macht ein berühmter Sternekoch im Gefängnis? Jared Keaton soll die eigene Tochter getötet haben. Doch deren Leiche wurde nie gefunden. Also vielleicht ein Ermittlungsfehler von DS Washington Poe? Doch das Gericht folgte der Argumentation des Polizisten, der Koch wanderte hinter Gitter. Sechs Jahre später taucht auf einem Polizeirevier in Cumbria eine junge Frau auf, die behauptet, Jareds Tochter zu sein, entführt von einem Unbekannten und jahrelang in einem Verlies festgehalten. Als auch noch eine DNA-Analyse die Aussage der Frau bestätigt, muss Poe noch einmal antanzen an seinem alten Dienstort im Nordwesten Englands. Und natürlich unterstützt ihn auch bei diesem verzwickten Fall wieder die brillante, aber im Umgang mit ihresgleichen nicht sonderlich geschickte Fallanalytikerin Tilly Bradshaw. Von DIETMAR JACOBSEN