///

Sprachlos

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Sprachlos

Die Zustände seien unbeschreiblich. Farb lächelte.

Ihr fehlten die Worte, sagte Annika.

Erforderlich sei eine Wissenschaft des Zusammenbruchs, spottete Wette, in der die Stadien dieser Abläufe dargestellt würden und ebenso die Bedingungen für eine Eskalation, möglichst stufenweise, ähnlich der Richterskala, die vor kurzem für Erdbeben galt.

Kein Problem, sagte Farb, diese Untersuchungen gebe es, der zivilisatorische Kollaps, so heiße es, kündige sich damit an, daß sich die sozioökonomische Komplexität reduziere, die öffentlichen Dienste versagen würden, die Regierung abstürze, daß sich kulturelle Identität auflöse und die Gewalttätigkeit im Alltag steige.

Wette lachte. Dieser Zustand, spottete er, sei ja erreicht, nein, es gehe nicht darum, daß eine Zivilisation auf einen primitiveren Stand falle, sondern daß sie gänzlich untergehe.

Die Definitionen seien noch unscharf, vermutete Annika.

Wette legte die Stirn in Falten.

Kollapsologie, sagte Farb und tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Wette schenkte Tee nach, Yin Zhen, sie hatten wie sonst auch das Service mit dem Drachenmotiv aufgedeckt, rostrot, Annika hatte sich in das Service verliebt, unsterblich verliebt, Tilman hatte es aus Beijing mitgebracht, wo er, wie es hieß, einen Halbmarathon auf der Großen Mauer gelaufen sei, interessant, gewiß, ich komme darauf zurück.

Auch diese Wissenschaft, sagte Tilman, gebe es, zweifelsfrei, und wie man sehe, sei sie darum bemüht, ihren Forschungsgegenstand präzise zu definieren, als Auslöser für einen etwaigen Kollaps gälten üblicherweise Naturkatastrophen, Kriege, Hungersnöte und Epidemien.

Das sei nicht mehr aktuell, wandte Farb ein, sondern es werde vor dem möglichen oder sogar zunehmend wahrscheinlichen Zusammenbruch von großen Teilen oder sogar der gesamten menschlichen Zivilisation gewarnt.

Kollapsologie, wiederholte Wette und nickte. Bedenkenlos überschreite der Mensch natürliche Grenzen, sagte er, die durch den Planeten gesetzt seien, die Ressourcen würden ausgebeutet, das Klima gerate in Mitleidenschaft, die Lebensgrundlagen würden verändert, ein nie dagewesenes Artensterben setze ein, während die Weltbevölkerung zunehme und gleichzeitig die weltweite soziale Ungleichheit in Armut, Bildung, Gesundheit, politischem Einfluß und sozialräumlicher Trennung.

Auf den Punkt gebracht, lobte Farb, selten habe er von Wette eine so fundierte Rede gehört.

Es gebe positive neue Ansätze, räumte Tilman ein, durchaus, nur daß sie publizistisch selten oder gar nicht dargestellt würden.

Die sogenannte Donut-Ökonomie schließe wirtschaftliches Wachstum zwar nicht kategorisch aus, erklärte Wette, aber vorrangig solle das menschliche Wohlergehen gefördert werden, und zwar unabhängig davon, ob das Bruttoinlandsprodukt steige, falle oder konstant bleibe, folglich könnten sich ökonomische Maßnahmen anbieten, die auf einen geringeren Gesamtressourcenbedarf oder sogar auf wirtschaftliche Schrumpfung (Degrowth) abzielten.

Kate Raworth kritisiere den homo oeconomicus als ein Menschenbild der Ökonomie, sagte Tilman, also eines nur sein Eigeninteresse verfolgenden, vereinzelten, habgierigen Wesens, das seine Präferenzen nicht ändere und die Natur beherrsche. In den Blick gehöre aber stattdessen der soziale, anpassungsfähige und von der lebendigen Welt abhängige Mensch. Das Bild, das sich die Ökonomie vom Menschen zurechtlege, präge sein Handeln; ein neues Bild werde die Möglichkeit schaffen, in den materiellen Bereich des Donut zu gelangen.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Zwischen Manie und Melancholie

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Erzählen im freien Fall

Kurzprosa | Alice Munro: Himmel und Hölle Die kanadische Nobelpreisträgerin Alice Munro schreibt ganz gewiss keine Frauenliteratur, ihre Kurzgeschichten enttarnen, variieren das Spiel zwischenmenschlicher Beziehungen, überzeugen durch ihre Virtuosität. HUBERT HOLZMANN hat den neu aufgelegten Band mit neun Kurzgeschichten Himmel und Hölle mit Bewunderung gelesen.

Leben

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Leben

Wo stammt das Leben her, von irgendwoher muß es ja kommen, oder ist es bloß einfach da, sonst nichts, unvorstellbar.

Das beschäftigt dich, Tilman?

Wo sein Ursprung liegt und wie das Leben sortiert ist, gewiß, das beschäftigt mich, ob einem Tier mehr davon zuteil wird als einer Pflanze, dem mächtigen Baum mehr als dem stillen Gänseblümchen, auf welche Weise ich daran teilhabe, und blüht das Gänseblümchen auch für mich.

Farb

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Farb

Die Tage vergingen, als wäre nichts geschehen, als wäre Farb noch präsent, als wäre alles wie gehabt, nach dem Frühstück bevölkerte sich der mit einer mannshohen Plane umsäumte Strandabschnitt, die Dänen trafen wie üblich gegen halb zehn von ›Cesar's Palace‹ ein und besetzten ihre Liegen neben dem massiven Felsblock.

Magritte als Programm

Kurzprosa | Mike Markart: Magritte

Der Grazer Autor Mike Markart legt in seinem neuen Erzählband Magritte eine Sammlung von Kurztexten vor, in der mehr als nur eine literarische Begleitstimme zu Bildern des großen Surrealisten entsteht: Markart lädt ein zu einer ganz erstaunlichen Ausstellung. Ein Rundgang mit HUBERT HOLZMANN.

Edens verschlossene Tür

Kurzprosa | Cornelia Schleime: Das Paradies kann warten Cornelia Schleime hat mit ›Das Paradies kann warten‹ ihren ersten Erzählband veröffentlicht. Als wunderbare Künstlerin ist sie schon lange bekannt, so schmücken ihre zarten, ätherischen und doch oft verletzend direkten Bilder auch die Erzählungen. In einer Mischung aus entrückter Verträumtheit und Bauarbeiterjargon schreibt sie vom Reisen, Kopulieren, Verlieren und Selbstfinden. VIOLA STOCKER ging ein Stück mit ihr.