///

Sprache

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Sprache

Sie brennen vor Ehrgeiz, weshalb, wenn du fragst, sie wissen es nicht, das ist wahr, sie tun sich hervor, unsere Maulhelden, sie sitzen nicht, nein, sie stehen, es handelt sich um das ultimativ moderne Format, nein, sie sitzen nicht, sondern melden Anspruch an auf die gesamte Bühne, sie sprühen vor Aktivität, inszenieren ihre One-Man-Show, sie gestikulieren, sie tun souveräne Schritte, große Bewegungen, es handelt sich um eine Präsentation, die gespickt ist mit Floskeln, demonstrativ verbreiten sie den Glanz der eigenen Erscheinung und buhlen darum, bestätigt zu sein, ihr glatter, reibungsloser Auftritt entzückt das Publikum.

Eine menschliche Silhouette, aus deren Umriss Buchstaben davonfliegen wie SchmetterlingeWas das ist, Sprache, sie wissen es nicht, ein Medium, sagen sie, der gegenseitigen Verständigung, der Kommunikation, sagen sie, der Information, und es liege doch auf der Hand, sagen sie, daß Sprache entstanden sei wie ein evolutionärer Prozeß, aus rudimentären Anfängen, einem Grunzen, einem Bellen, und sei daraus zu komplexeren Formen vorangeschritten, wie denn auch sonst, das zeige sich einleuchtend an der Gegenwart, da man, synchron betrachtet, an den Lebewesen eben auch die verschiedenen Stufen der sprachlichen Evolution erkenne, das liege auf der Hand, wer sehe da ein Problem, fragen sie und treten mit wissenschaftlichem Gestus auf, diese Bezos, Klein, Musk, Zuckerman, aufgeblasen, ein Haschen nach Wind.

Tilman kann über solche Rede nur amüsiert sein, seit wann sei denn die These der evolutionären Entwicklung auf Sprache anwendbar, und man könnte weitergehend meinen, die letzte Stufe sei mit den von Algorithmen erzeugten Sätzen erreicht, autonome Sprache, das sei der Fortschritt – doch welche Stufe, anstatt sie zu behaupten, habe man nachweisen können, unmöglich, lauter Kopfgeburten, und generell, ob denn die These der Evolution ein schlüssiges Konzept sei, er hätte da Zweifel anzumelden, erhebliche Zweifel, es gäbe Brüche, Pausen, Durststrecken, die Abläufe seien sprunghaft, er erinnere an das Sauriersterben, an das PETM – von linearem Wachstum zu reden, das gehe am Ziel vorbei, und wie überhaupt dürfe man sich einen Urknall vorstellen, schon gar, was Sprache angehe.

Tilman, Susanne kannte das, monologisierte gelegentlich, nein, nicht daß sie sich daran stören würde, er hat einen angenehm wärmenden Bariton, sie hörte ihm gern zu, das hatte sich in den Jahren so eingespielt, sie nickte zustimmend, fiel ihm gelegentlich auch ins Wort, denn manche seiner Äußerungen schienen ihr allzu verstiegen, sie gab ihm das eine oder andere zu bedenken, routinehalber, man darf die Bäume nicht in den Himmel wachsen lassen, stets herrschte entspannte Gesprächsatmosphäre.

Dem Menschen seien eben manche Zusammenhänge nicht zugänglich, und für eine gleitende Verfeinerung sprachlicher Strukturen gebe es nun einmal keine zweifelsfreien Beispiele, weder Wachstum noch Fortschritt seien auf Sprache anwendbar, oder sei das Mittelhochdeutsche minderwertig, wenn man ihm das Hochdeutsche gegenüberstelle, oder sei die lateinische Sprache strukturell ärmlicher. Nein, die Sprachen vergleichend, schäle sich keine Rangfolge heraus, sondern eher Vielfalt, auch was die jeweilige Schrift angehe, man denke an das Arabische, an das Chinesische – unmöglich sei da ein gemeinsamer Ursprung herzuleiten, ein schlechter Witz, es existiere kein linguistischer Urknall.

Eine lineare Verfeinerung sprachlicher Strukturen, fragte Tilman, historisch gewachsen? Die einzelnen Sprachen seien je verschieden ausgeprägt, sie hätten einen eigenen Charakter, und wer eine fremde Sprache lerne, dem erschlössen sich neue Welten, und an Evolution kein Gedanke, nein, im Gegenteil.

Rufe er nicht ein Anthropozän aus, fragte Susanne, und plane den Mars zu besiedeln, und übergebe an künstliche Intelligenz?

Was spiele sich ab, fragte sich Tilman, der Homo Sapiens sei auf einem falschen Dampfer, er habe das falsche Ticket gelöst.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Über Games berichten

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Beste Aussichten

Literaturkalender 2023

»Ein Kalender ist ein Jahr, das man auf Vorrat kauft,« wusste schon Inge Meysel. Und auch ein literarisches Depot kann uns jene Rationen an Halt, Hoffnung und Zuversicht schenken, aus denen sich täglich neue Kraft schöpfen lässt. Inspiration für kommende Lektüren gibt es obendrein. INGEBORG JAISER hat mit Vergnügen durch Literaturkalender für das neue Jahr geblättert.

Auflösung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Auflösung

Er sehe sich Irrwegen ausgesetzt, sagte Farb, Sackgassen, täuschenden Abzweigungen, wohin das führe, es würden falsche Fragen gestellt.

Zufall, nein, sagte er, das sei kein Zufall und ebenso wenig ein Anzeichen von Demenz, es würden falsche Fährten gelegt.

Annika legte ihr Reisemagazin beiseite.

Tilman schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Absicht, sagte er, das geschehe mit voller Absicht, die Öffentlichkeit werde auf Glatteis geführt.

Wenn dem Esel zu wohl werde, sagte Tilman, gehe er aufs Eis tanzen.

Annika lächelte. Man wisse sich nicht anders zu helfen, sagte sie.

Worte eines alten Teenagers

Kurzprosa | Truman Capote: Wo die Welt anfängt Um diesen Band von Erzählungen richtig zu begreifen, sollte man sich zuerst mit dem Nachwort der Herausgeberin Anouschka Roshani befassen.VIOLA STOCKER reiste als Passagier durch ein Universum des amerikanischen Traums.

Irrfahrt mit dem Navigator

Kurzprosa | Hartmut Lange: Der Lichthof

»Es gibt kein Problem, das man nicht aus der Welt schaffen kann. Man muss nur verstehen, worum es geht«, lässt der inzwischen 83-jährige Hartmut Lange eine seiner Figuren, den Politologen Ronnefelder gleich zweimal sagen. Das klingt Lange-untypisch, fast simpel, beinahe wie ein Kalenderspruch aus einem philosophischen Ratgeber. Vom Berliner Novellisten ist man anderes gewohnt: jede Menge Düsternis, Rätselhaftigkeiten, tiefe seelische Abgründe und bisweilen schaurige Naturbeschreibungen, die er zumeist an einsamen Ufern der vielen Seen im Berliner Umland angesiedelt hat. PETER MOHR hat den neuen Novellenband von Hartmut Lange Der Lichthof gelesen.

Dämmerung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Dämmerung

Ob sie je darauf geachtet hätten, wann die Dämmerung anbreche.

Er mache Witze, sagte London.

Die Sonne gehe unter?, spottete Pirelli.

Kann nicht wahr sein, sagte Rostock.

Sut lächelte.

Thimbleman reckte die Arme.

Eldin fühlte nach seinem schmerzenden Schultergelenk.

Wann sie endlich wieder die Schaluppen zu Wasser brächten, wollte Harmat wissen.