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Ein Dichter und rastlos Reisender

Biografie | Sandra Richter: Rilke oder Das offene Leben

Der Panther und die Stäbe. Die Rose und der reine Widerspruch. Der schreckliche Engel. Rainer Maria Rilke hat die deutschsprachige Literatur bereichert wie nur wenige vor und nach ihm. Vor 150 Jahren, am 4. Dezember 1875, wurde der Dichter in Prag geboren. DIETER KALTWASSER hat die neue Biografie ›Rilke oder das offene Leben‹ gelesen.

Ein Mann mit Hut steht an Seeufer und blickt in die Ferne.In der neuen Biografie ›Rilke oder das offene Leben‹ von Sandra Richter, wird der Dichter Rainer Maria Rilke nicht länger als »weltabgewandter Einsiedler« beschrieben, wie er sich auch gerne selbst stilisierte, sondern als durchsetzungsfähig, aufgeweckt im gesellschaftlichen Umgang, ironisch und auch in finanziellen Dingen beschlagener, als es gemeinhin angenommen wurde; und er mischte sich auch in gesellschaftliche und politische Verhältnisse seiner Zeit ein. Die von Richter benutzten neuen Quellen zeigen, »dass er einer der mit dem Literatur- und Kunstbetrieb seiner Zeit eng verbundenen Autoren der europäischen Moderne war […].

Sandra Richter gelingt es in ihrer herausragenden Biografie, im Leben und Werk Rilkes neue und bislang unentdeckte oder vernachlässigte Seiten aufzuschlagen. Der Dichter lebte in schwierigen Zeiten, doch er verarbeitete sie mit einer Kraft, die – wie es in der Biografie heißt – »vielleicht nur im Angesicht existenzieller Bedrohung glaubhaft wirkt.«

Die Literaturwissenschaftlerin und Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach konnte mit neuen Quellen arbeiten, die mit dem Ankauf des großen Rilke-Archivs 2022 nach Marbach gelangt sind; so wurden aus dem Nachlass noch unveröffentlichte Rilke-Dokumente, Briefe, Aufzeichnungen, aber vor allem auch 15 Notizbücher ausgewertet. Zuvor war fast 100 Jahre eines der bedeutenden Autorenarchive des 20. Jahrhunderts in Privatbesitz.

Richter schreibt: »Indem ich Begebenheiten aus Rilkes Leben näher beleuchte, die bislang nur in groben Zügen dargestellt wurden, möchte ich den von Rilke selbst verwischten Spuren nachgehen, Wirklichkeitskerne aus Rilkes Texten herausschälen und das Literarische an ihnen beschreiben. Die Auswahl der Begebenheiten orientiert sich an Biographemen, also prägenden Ereignissen, die Rilke dauerhaft beschäftigten und über die er sich immer wieder äußerte, darunter das schwierige Verhältnis zur Mutter, die Erzählung von der vermeintlich adligen Vaterfamilie, der körperliche Zwang in der Militärschule der k. u. k. Monarchie. Biographeme wie diese sind Dreh- und Angelpunkte von Rilkes Handeln, Schreiben, Sich-Verweigern und zugleich Gegenstand der Selbstdeutung in seinen Briefen, Gedichten, Dramen, Erzählungen.«

Auch die Frauen gehören dazu. Die schillernde Lou Andreas Salomé war es, die René Karl Wilhelm Johann Josef Maria dazu bewegte, seinen Namen zu »Rainer Maria« zu ändern. Der Dichter hatte kein leichtes Verhältnis zu seiner Mutter Phia; seine Ehefrau Clara Westhoff vernachlässigte er; die Beziehung zu seiner Tochter Ruth war ambivalent. Bedeutend waren Frauen aber auch als Mäzeninnen, etwa die gebildete und vermögende Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe.

Phia, aus großbürgerlichen Verhältnissen stammend, heiratete einen Mann, der sich mit einer mittleren Laufbahn bei der Eisenbahn begnügte. Ihren Sohn René Maria steckte sie, die sich eigentlich eine Tochter gewünscht hatte, als Kind mit langem Haar in Mädchenkleider. Die Ehe der Eltern brach auseinander. Für Andreas-Salomé haben seine Mutter und die Prager Verhältnisse Rilke zu einer Gefährdeten, »zu einer kleinen Renée gemacht«.

Die 15 Jahre ältere Lou wurde Rilke zur Geliebten und »Wahlmutter«. 1899 und 1900 reisten beide nach Russland und trafen dort unter anderem Leo Tolstoi und Boris Pasternak. Auch zu Marina Zwetajewa, der bedeutendsten russischen Lyrikerin im 20. Jahrhundert, hielt Rilke Kontakte. Er verkehrte in der Künstlerkolonie Worpswede, wo er seine spätere Frau traf und die Malerin Paula Modersohn-Becker, eine Wegbereiterin der Moderne.

Er arbeitete als Sekretär von Auguste Rodin in Paris, er übersetzte Baudelaire und Gide, Dante und D’Annunzio. Er war ein rastlos Reisender: Er lebte in Deutschland, Schweden, Italien, Frankreich und der Schweiz und er reiste nach Russland, Spanien und Ägypten.

Richter urteilt: Zu einer Quelle von Rilkes Kunst wurden ihm auch seine Probleme. Vor allem in Paris »war er angstgeplagt, hatte die Sorge, dass er es nicht schafft als Autor, als Dichter […], dass er der Großstadt nicht gewachsen ist«. Also schrieb er den »Malte Laurids Brigge«, in dem er »seine Figur zum Alter Ego macht[e]«. Dieser Malte sollte »all die Ängste verarbeiten, die er eigentlich loswerden wollte, aber zugleich natürlich auch nur so, dass er weiter schreiben konnte und das ist dieses zentrale Motiv, dass immer wieder bei ihm auftaucht.«

Rilke selbst nahm von seinem eigenen Erfolg erst Notiz, so erfahren wir von der Autorin, als er sich ums Geld keine Sorgen mehr machen musste. Rilke lässt sich in der Schweiz nieder; 1923 erschienen die ›Duineser Elegien‹und ›Die Sonette an Orpheus‹. Er bezieht das Château de Muzot, doch seine letzten Lebensjahre sind auch geprägt von sich verstärkenden Krankheitssymptomen und dem Aufenthalt in Sanatorien.

Blätter und Blüten zieren den Einband des BuchsEinen interessanten, nicht jedem bekannten Aspekt von Rilkes Leben hat Sandra Richter in einem weiteren Buch beleuchtet – einem kleineren, aber ebenso lesenswerten. ›Rilke als Gärtner‹ heißt das Insel Bändchen, das Richter zusammen mit Anna Kinder herausgebracht hat. »Gleich nach der Niederschrift seines Spätwerks machte sich Rilke an die Arbeit und entwarf sich selbst als Gartenarchitekt und Hilfsgärtner neu«, schreibt sie. Der Grund: Er wollte das »Eis« seiner »langen Einsamkeit, wenigstens am Rande, brechen und tauen […] Rilke liebte das Gärtnern, aber nicht täglich und nicht aus Pflicht.«

Die Gartenbilder spornten ihn an zu seinem spätesten Werk und handeln von den Blumen und der Landschaft des Wallis. »Das Buch der Natur und das Buch der Literatur ergänzten sich und wurden teilweise deckungsgleich,« fassen es Richter und Kinder zusammen.

»Doch es war die gärtnerische Tätigkeit, die Rilkes Ende beschleunigte. Als er von der schönen Ägypterin Nimet Eloui, einer begeisterten Autofahrerin, die er in der Kur kennengelernt hatte, Besuch bekam, schnitt er für sie Rosen. Ein Dorn drang ihm in die Hand.« Mit dem Dorn waren Krankheitserreger in die Haut eingedrungen. Rilkes geschwächter Körper war nicht in der Lage, gegen sie anzukämpfen. Vielleicht hat also der Dorn dieser Rose Rilkes Tod noch beschleunigt.

Am 29. Dezember 1926 starb Rilke an einer myeloischen Leukämie. Sein Grabspruch entstammt dem Rosenkult des dichtenden Gärtners: »Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel / Lidern.«

| DIETER KALTWASSER

Titelangaben
Sandra Richter: Rilke oder Das offene Leben
Berlin: Insel Verlag 2025
478 Seiten, 28 Euro
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Sandra Richter und Anna Kinder: Rilke als Gärtner
Insel-Bücherei Nr.1154
Berlin: Insel Verlag 2025
110 Seiten, 16 Euro
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