Pilgern für Fortgeschrittene

Roman | Stephan Thome: Fliehkräfte

Nur zwei Romane hat Stephan Thome bislang verfasst – und beide landeten umgehend auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis: 2009 sein fulminantes Debüt Grenzgang und wenige Jahre später seine weit verzweigten Fliehkräfte. Von INGEBORG JAISER

Thome Fliehkräfte

Schon auf den ersten 100 Seiten sind die Fährten gelegt, die Eckpunkte ausgelotet: Was erst als Campusroman beginnt, entwickelt sich zur Chronik verspäteter Midlife-Crisis, schließlich zum latenten Ehedrama. Doch das ist längst nicht alles.

Hartmut Hainbach, Ende 50, gut situiert und saturiert als Philosophieprofessor an der Bonner Universität, Ehemann einer aparten Portugiesin, Vater einer längst flügge gewordenen Tochter und Eigenheimbesitzer auf dem Venusberg, ist scheinbar mit allen Insignien eines erfolgreichen Lebens ausgestattet – doch peu á peu blättert die Fassade und lässt das schale, unbefriedigende Gefühl zurück, bleibend im Abseits zu stehen. Aus einfachen Verhältnissen stammend (hier taucht das schon aus Grenzgang hinlänglich bekannte Bergenstadt wieder auf, das gelungene imaginäre Abbild einer hessischen Kleinstadt), hat sich Hainbach eine C3-Professur in Bonn erkämpft, was er jedoch stets als zweite Wahl empfindet, scheitern doch all seine Versuche um eine Berufung nach Berlin.

Seine attraktive Ehefrau Maria, die sich in der Rolle als Hausfrau und Mutter nie besonders heimisch fühlte, ist nach langen erwerbslosen Jahren selbstbewusst nach Berlin gezogen, um als Assistentin an einem Off-Theater zu arbeiten, ausgerechnet unter der Intendanz von Falk Merlinger, einem ihrer früheren Liebhaber. So hat sich Hartmut Hainbach in eine ungewollte Fernbeziehung zu fügen, die ihn zusehends verunsichert. Da auch Tochter Philippa zum Studium das Elternhaus verlassen hat, driftet der Zurückgebliebene in schwermütige Einsamkeit und nagende Selbstzweifel ab.

Nachtfahrt nach Lissabon

Zermürbt von den universitären Reformbewegungen um den leidigen Bologna-Prozess, angefixt vom überraschenden Jobangebot eines Berliner Wissenschaftsverlages, stellt Hartmut sein Leben in Frage – das bisherige und das mögliche. Soll er wenige Jahre vor der Pensionierung noch einmal neu durchstarten? Beamtenstatus und Sicherheiten aufgeben? Das verlassene Eigenheim verkaufen?

Derart aus der Routine geworfen, startet Hartmut spontan zu einer Wallfahrt gen Westen, 3000km weit, über Paris und die Atlantikküste bis nach Santiago de Compostela und Lissabon. Und hier beginnt das Roadmovie.

Melancholie ortloser Einsamkeit

Wie in einem Panorama ziehen die Weggefährten früherer Jahre als jetzige Fixpunkte und Haltestationen vorüber, erhellen mögliche Lebensentwürfe: Hartmuts Pariser Studienfreundin Sandrine, die couragiert einen Schlaganfall überstanden hat; Ex-Kollege Tauschner, der schon vor Jahr und Tag in bester Aussteigermanier seine Juniorprofessur gegen eine Existenz als Barbesitzer eingetauscht hat; Tochter Philippa, die nicht nur durch ihr Coming out als Lesbe überrascht, sondern als forscher Katalysator wirkt. Geschickt arrangiert Thome in Rückblenden und Zeitsprüngen die Erlebnisse zwischen 1973 und 1998.

So wie die physikalischen Fliehkräfte durch die Trägheit des Körpers bedingt sind, reibt sich Hartmut Hainbachs biedere Steifheit an der äußeren Dynamik. Mit zartbitterer Ironie legt Stephan Thome die Animositäten akademischer Niederungen genauso offen wie das bemühte Lebensarrangement der längst auseinander gedrifteten Eheleute, die »Melancholie ortloser Einsamkeit«.

Sehr nah steht der Leser den Figuren dieses Romans, ihren Gedanken, Ängsten, inneren Monologen, umgeben von atmosphärisch dichten Details und authentisch wirkenden Szenerien. Nicht umsonst glaubt sich Stephan Thome am Realismus von Autoren wie Max Frisch, Philip Roth, Jonathan Franzen geschult. So gelingt ihm auch mit seinem zweiten Werk ein faszinierendes modernes Sittengemälde, ein pointierter Gesellschaftsroman.

Am Ende entzieht sich Hartmut Hainbach selbst den vielfältigen Fliehkräften, die auf ihn wirken. Angekommen an der portugiesischen Küste, mit Ehefrau Maria vereint, wenngleich nur halbwegs versöhnt, stürzt er sich nachts ins Meer. Er schwimmt. Da ist Hartmut in gewisser Weise ganz bei sich, aber kein Stück näher an der Entscheidung, die er zu treffen hat.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Stephan Thome: Fliehkräfte
Berlin: Suhrkamp Taschenbuch 2013
474 Seiten. 10,99 Euro

Reinschauen
Videobeitrag

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

On the Road again

Nächster Artikel

Generationenkonflikt

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Wie Bonnie und Clyde

Roman | Ulrich Woelk: Mittsommertage

In der aufgestauten Hitze der Berliner Mittsommertage verdichten sich die Verwerfungen vergangener Dekaden und erschüttern manch allzu glattes Lebensarrangement. Zwischen einem unerwarteten Hundebiss, philosophische Gedanken zum Tierwohl und verdrängten Traumata können mehrere Wahrheiten liegen. Ulrich Woelks aktueller Roman wirbelt alle Gewissheiten durcheinander. Von INGEBORG JAISER

Das Leben als Elegie

Roman | Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal Bei Regen im Saal – der neue Roman von Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino. Von PETER MOHR

Schwärzer als die Nacht

Roman | Tom Kummer: Von schlechten Eltern

In der Vermengung von Fakten und Fiktionen hat es Tom Kummer zu halsbrecherischen Leistungen gebracht. Auch wenn Von schlechten Eltern nun die Gattungsbezeichnung Roman trägt, sind autobiographische Parallelen so offensichtlich, dass es schmerzt. Der Rest oszilliert zwischen »Black Magic Sensation«, Berner Landeskunde und der Funktionalität eines Mercedes-Bordcomputers. Von INGEBORG JAISER

Zwei Freunde – ein Verbrechen

Roman | Bernhard Aichner: Bösland

Tote gibt es noch in Bernhard Aichners neuem Thriller – aber keine Totengräber(innen) mehr. Stattdessen lässt der Tiroler Autor in Bösland zwei Männer aufeinander los, deren Freundschaft einst ein Verbrechen auseinanderbrachte. Aber hat sich die brutale Ermordung der damals dreizehnjährigen Matilda tatsächlich so abgespielt, wie es die ganze Welt aus den Nachrichten erfuhr? Von DIETMAR JACOBSEN

Das Geheimnis der Tänzerin

Roman | Tanizaki Jun‘ichiro: Die Fußspur Buddhas

Satsuko und Buddha. In Deutschland kaum bekannt, ist Tanizaki Jun’ichirō (der Vorname steht traditionell hinten) einer der berühmtesten Autoren Japans. 119 Bücher hat er geschrieben, über Ästhetik, über Sex, über den Zusammenprall der japanischen mit der westlichen Kultur. Sein Altersroman Die Fußspur Buddhas mit dem Untertitel »Aus dem Tagebuch eines sonderbaren Greises« spiegelt auch die Zeit der 1960er-Jahre wieder. Von GEORG PATZER