/

Boden ohne Blut, bitte!

Menschen | Michael Brenner (Hg.): Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart

Die schlechte Nachricht zuerst: Nein, es hätte sie nicht geben sollen – Juden und Geschichte in diesem Land nach der Shoah. Weder für die gojischen Deutschen noch für den Jüdischen Weltkongress. Jetzt die gute: Doch, es gibt sie wieder! Wie, gegen welche Widerstände und durch welche Kräfte sie trotzdem zustande kam, zeichnet die von Michael Brenner herausgegebene Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart nach. Ohne Scheu vor ungemütlichen Fakten und ohne »Oh-wie-schön!«-Schmu. Von PIEKE BIERMANN

Michael Brenner (Hg.): Geschichte der Juden in Deutschland

Die Geschichte der Juden in Deutschland ist lang, und deutsche Juden oder jüdische Deutsche waren immer schon nur ein Teil. Es ist eine fruchtbare Geschichte, die auch furchtbare Episoden hatte, bevor sie 1945, nach dem antisemitischen Vernichtungswahn von Nazi-Deutschland, ein für allemal zu Ende schien.

Mit dem Jahr 1945 endete auch die vierbändige Deutschjüdische Geschichte in der Neuzeit. 1600-1945. Sie gilt als Standardwerk, 1996/97 herausgegeben vom Leo Baeck Institut. Seitdem sind etliche kleine und große Studien erschienen – über wiedergegründete Gemeinden und wiederaufgebaute Synagogen, über jüdisches Leben in den Lagern für »Displaced Persons« (DP) und später in der Bundesrepublik, über Entschädigungsblockaden und neu-alten Antisemitismus. Eine Gesamtschau dagegen fehlte bisher. Jetzt ist sie da, sozusagen als fünfter Band des Leo-Baeck-Projekts, gefördert von der VolkswagenStiftung. Ergebnis jahrelanger Archivarbeit von acht Autoren – vier Frauen, vier Männern, die jeweils zu zweit eine Periode erforscht haben – unter Federführung von Michael Brenner, dem Inhaber des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität München. Über 500 Seiten bestens dokumentierte und lebendige, aufregende Prosa.

Koffer unterm Bann

Vorangestellt ist ein Essay von Dan Diner über den Cherem, den Bann, unter dem das neue jüdische Leben in (West-) Deutschland anfangs stand. Für Juden war das »Leben auf gepackten Koffern« nicht bloß eine hübsche Metapher. Und die Koffer standen obendrein – wie hier zum ersten Mal ausführlich geschildert – zwischen zwei Stühlen. Der Druck kam von beiden Seiten. Die nichtjüdischen Nachbarn hatten gerade vorher unmissverständlich klargemacht, dass Juden »endgelöst« gehören, und waren nicht erpicht auf die Wenigen, die das überlebt hatten und womöglich wiederhaben wollten, was ihnen geraubt worden war. Und den jüdischen Hilfsorganisationen, dem Jüdischen Weltkongress und dem Jischuw (der jüdischen Gemeinschaft in Palästina vor der israelischen Staatsgründung) galt es als glatter Verrat, auf »blutgetränktem Boden« zu bleiben, gar wieder Gemeinden aufzubauen. Für sie waren Juden, die es trotzdem taten, »parasitäre Charaktere«, korrumpiert »von den Fleischtöpfen Deutschlands«. Diner berichtet von dem Konflikt – als Einziger leider doch etwas akademisch trocken, aber – mit so ergreifenden Details, dass es einem schier den Atem verschlägt angesichts des Muts, der Hartnäckigkeit und der Widerstandskraft der Rückkehrer und Neuansiedler.

»Mir senen do!«

Die vier Teile des Buchs sind chronologisch geordnet. Atina Grossmann und Tamar Lewinsky erzählen von den DP-Lagern vor allem in der amerikanischen und britischen Zone. Eine Viertelmillion Menschen zumeist aus dem Osten kam hier zunächst provisorisch unter, Shoah-Überlebende und ins Sowjet-Exil Gezwungene. Aber nicht zuletzt dank energischer Unterstützung durch die US-Politik, die jüdisches Leben in Deutschland als demokratischen »Lackmustest« verstand, blieben viele nach dem trotzigen Motto eines jiddischen Partisanenleids: »Mir senen do!«

Im zweiten Teil schildern Michael Brenner und Norbert Frei die ersten zwanzig Jahre des neugegründeten Zentralrats, das allmähliche »Sesshaftwerden« zwischen »Wiedergutmachungs«verhandlungen und internen Querelen um eine liberale oder orthodoxe Ausrichtung der Synagogen. Constantin Goschler und Anthony Kauders zeichnen im dritten Teil die Periode zwischen zwei historischen Daten nach, 1968 und 1989, die auch intern von markanten Entwicklungen geprägt war: dem Generationenwechsel und der allmählichen Verwandlung der metaphorischen Koffer, die Salomon Korn 1986 in dem berühmten Satz zusammengefasst hat: »Wer ein Haus baut, will bleiben.« Der vierte Teil von Lena Gorelik und Yfaat Weiss schließlich widmet sich der Zeit seit dem Mauerfall, vor allem der Migration aus dem Ostblock, die jüdisches Leben in Deutschland wieder mal neu definiert hat.

Auch heute leben in Deutschland wieder jüdische Deutsche, deutsche Juden und eine multi-»nationale« Jewish community mit und ohne Gemeindebindung, zu der sogar immer mehr Israelis stoßen. Die Koffer sind ausgepackt, das Haus ist da und ziemlich solide gebaut. Jetzt kommt es darauf an, ob der Boden, auf dem es errichtet wurde, solide ist und gepflegt wird – ob ihn, mit anderen Worten, die nichtjüdische Mehrheit verlässlich von Blut freihält. Dieses Buch bietet dafür das fundamentale Wissen.

| PIEKE BIERMANN

Eine erste Version dieser Rezension wurde am 1. November 2012 bei Deutschlandradio Kultur veröffentlicht.

Titelangaben
Michael Brenner (Hg.): Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart
München: C. H. Beck Verlag 2012
542 Seiten. 34 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Kann sein sie hat Kinder, hat Enkel

Nächster Artikel

Was die Welt nicht braucht

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Die Häutungen des Blechtrommlers

Menschen | Zum Tod des Nobelpreisträgers Günter Grass Günter Grass war nicht nur einer der bedeutendsten deutschsprachigen Gegenwartsschriftsteller. Er war auch über mehr als sechs Jahrzehnte künstlerischer Tätigkeit stets ein streitbarer und umstrittener Zeitgenosse. Von PETER MOHR

Furchtbar, aber auch komisch

Menschen | Zum Tode des US-Dramatikers Edward Albee »Wenn man eine Gesellschaft kritisieren will, muss man Außenseiter dieser Gesellschaft sein«, so das dichterische Credo des Dramatikers Edward Albee. Obwohl er dreimal den Pulitzerpreis erhielt (zuletzt 1994 für ›Drei große Frauen‹), ist er in der amerikanischen Gesellschaft selbst immer Außenseiter geblieben. Von PETER MOHR

Gut informierter Optimist

Menschen | Vor 100 Jahren wurde José Saramago geboren

»Er versucht in Gleichnissen, eine fliehende Wirklichkeit sichtbar zu machen«, hieß es in der Begründung des Stockholmer Nobelpreiskomitees, als José Saramago 1998 (damals etwas überraschend) die wichtigste Auszeichnung der literarischen Welt verliehen wurde. In diesen Kontext fügt sich auch das Motto, das Saramago seinem Roman »Die Stadt der Blinden« (1997) vorangestellt hatte: »Wer schauen kann, der sehe. Wer sehen kann, der betrachte.« Von PETER MOHR

Geschichten, die wir selber schreiben

Musik | Interview mit Hannes Wittmer

Seit mehr als zehn Jahren ist Hannes Wittmer hauptberuflich als Musiker tätig. Der gebürtige Unterfranke wurde vor allem als Singer-Songwriter unter dem Pseudonym Spaceman Spiff bekannt, unter welchem er bis 2017 poetische, deutschsprachige Texte mit melancholisch anmutenden Gitarrenklängen vermischte. Als Teil der experimentellen Indie-Band Otago veröffentlichte er später auch englischsprachige Lieder und entfernte sich damit mehr als nur namentlich von seiner Rolle als Spaceman. 2018 entschied er, diese endgültig gehen zu lassen und fortan unter seinem bürgerlichen Namen aufzutreten. SARAH SCHMITTINGER traf noch vor den Kontaktbeschränkungen einen Künstler, der in den letzten Jahren gespürt hat, was es heißt, mit Erwartungen zu brechen und Alternativen aufzuzeigen.

Ein Journalist und Literat

Biografie | Christian Buckard: Egon Erwin Kisch – Die Weltgeschichte des rasenden Reporters

Die Kaffeehäuser der Welt waren sein zu Hause, doch wo immer er auch war, um davon zu berichten, sein Herz gehörte allein der Stadt, in der er zur Welt kam: Prag. Seine Reportagen machten ihn weltbekannt. Sein großes Vorbild war der französische Schriftsteller und Journalist Émile Zola. In Prag wurde er zum Lokalreporter, in Wien zum Kommunisten und vom Berlin der 20iger Jahre aus bereiste er die Welt. Von DIETER KALTWASSER