Aus der Gerüchteküche

Kinderbuch | Martin Baltscheit/Christine Schwarz: Schon gehört?

Gerüchte sind merkwürdige Dinge. Einmal in die Welt gesetzt, entwickeln sie eine Eigendynamik der besonderen Art. Wie so etwas funktioniert, können auch schon die Kleinen verstehen, wenn man es so wundervoll am Beispiel eines Flamingos erklärt, wie das Martin Baltscheit und Christine Schwarz tun. ANDREA WANNER staunt über die wundersame Verwandlung des Vogels.

Schon gehoertFlamingos kennen wir alle aus dem Zoo. Dort bestaunen wir die Vögel, die auf einem ihrer beiden langen Beine stehen, in ihrem rosa Federkleid (das sie durch den Genuss von Algen und Krebstieren bekommen, die entsprechende Farbpigmente enthalten). Ein wunderschönes Bild, das auch am Anfang der Geschichte steht: »Steht ein Flamingo am See und schläft. Rosa Flamingo. Tiefblauer Schlaf.« Was für ein poetischer Text, was ein bezauberndes Bild dazu: Wie eine rosarote Blume sieht das Tier aus. Die Augen geschlossen, den Schnabel in die Federn geschmiegt, sodass aus dem Körper eine einzige, pralle Blüte wird, die aus einem dünnen Stängel – dem Bein des Flamingos – zu wachsen scheint. Anmutig und zauberhaft strahlt das Bild zugleich Ruhe und Kraft aus. Mit der Ruhe soll es schnell vorbei sein.

Unser Flamingo, ahnungslos schlafend, bekommt Besuch. Ein Storch fliegt vorbei und grüßt ihn mit einem »Hallo!« Und eben weil der Flamingo schläft, antwortet er nicht. Das reicht dem Storch, um beleidigt zu sein. Und wer beleidigt ist, neigt zu verletzenden Worten. »Du redest wohl nicht mit jedem? Bist vielleicht was Besseres?« reagiert er eingeschnappt. Und fügt hinzu »Trägst Schuhe aus Lack und Federn aus Gold.« Der Flamingo regt sich nicht. Aber das Bild von ihm setzt um, was der Storch ihm andichtet: Das Gefieder wechselt die Farbe und schillert jetzt in rötlichem Gold, an den beiden Füßen aber stecken glänzend schwarze Herrenschuhe. Der Vogel hat einen Teil seiner Eleganz eingebüßt und wirkt mit den Schuhen plötzlich plump. Aber das ist erst der Anfang einer unglaublichen Verwandlung.

Böse Neider

Der Storch bleibt nicht der einzige Besucher. Der nächste ist eine Ente, auf deren Gruß der schlafende Flamingo ebenfalls nicht antwortet. Wunderbar, jetzt können die beiden Gekränkten sich gemeinsam aufregen. Der Storch fügt auch sofort eine üble Vermutung an: »Hat bestimmt seine Mutter an den Zoo verkauft.« Und die Ente lästert, dass der Flamingo so viele Garnelen frisst, dass er bald fett wie ein Schwein wird. Das Bild des schlafenden Flamingos wandelt sich erneut und plötzlich hat er einen fetten Schweinekopf auf seinem Vogelkörper.

Es wird immer wilder. Reiher, Gans und Papagei verwandeln sauer, weil ihr Gruß unerwidert blieb, Schritt um Schritt den Flamingo in ein Ungeheuer. Den verbalen Beleidigungen hält das Bild Seite um Seite Schritt, wird aus dem unschuldig Schlafenden ein Monster, habgierig, herzlos und äußerst brutal. Allen Vögeln soll es an den Kragen gehen, weil das Scheusal am Ende noch »einen Mantel aus Gänsedaunen, Schuhe aus Entenschnabel, ein Mützchen aus Reiherflaum und eine Kette mit Spatzenaugen braucht.« Das dazugehörige Bild zeigt ein Untier im bunten Federkleid, dessen Gewaltbereitschaft unverkennbar ist und das keine Ähnlichkeit mehr mit dem Flamingo aufweist, aus dem es sich Schritt für Schritt, Seite um Seite entwickelt hat. Fassungslos starren es die anderen Vögel an und der Spatz, der als Letzter dazukommt und die grausige Zusammenfassung des Papageis hört, reagiert – sicher verursacht durch den entsetzlichen Gedanken an eine Kette aus Spatzenaugen – panisch, in dem er laut schreiend das Ende der Welt verkündet. Der Flamingo, der nun einem fürchterlichen Schamanen gleicht, der über gewaltige Zauberkräfte zu verfügen scheint – schließlich hat er sich durch allerlei furchtbare Trophäen entsprechende Kräfte angeeignet, wird angeblich all töten.

Tatsächlich erwacht der Dämon, der bisher statuenhaft unbeweglich dastand, zum Leben, verwandelt sich in einen feuerspeienden Drachen, vor dem die Vögel, die bisher gaffend neben ihm standen, entsetzt davonfliegen.

Zurück bleibt der Storch, der das erste Gerücht in die Welt gesetzt hatte und sich nun bestätigt sieht: »Na, wusst ich’s doch! Flamingos sind an allem schuld. Vögel wie die gehören ausgestopft.« Und gleichzeitig findet die Rückverwandlung des Flamingos statt, Seite um Seite, bis wieder das blütengleiche Geschöpf auf einem Bein dasteht. Der Kreis schließt sich: »Steht ein Flamingo am See und schläft. Rosa Flamingo. Tiefbauer Schlaf.«

Wir reiben uns die Augen. Was war das? Ein Traum? Ein Albtraum? Hat sich der Vogel verwandelt? War er das Böse, das die anderem in ihm sahen? Oder stand dort immer nur ein harmloser Flamingo? Wem haben wir geglaubt? Eine Lüge, so sagt das Sprichwort, hat kurze Beine. Aber ein Gerücht, fährt es fort, hat Flügel. Gerüchte sind gefährlich, sie können den, den sie betreffen beschädigen und demontieren, können Existenzen vernichten. Neid, Ärger, Eifersucht, verletzte Eitelkeit: Die Motive für Gerüchte sind vielfältig. Was sie anrichten können, verheerend.

Eindrückliche Bilder, ein knapper Text. Sechs Gerüchteköche und ein Opfer. Übrig bleibt ein schales Gefühl. Der Flamingo ist noch immer rosa. Aber sein Schlaf wirkt nicht mehr ruhig und unschuldig. Wenn wir ihn am Ende des Buches so dastehen sehen, wissen wir, dass das Bild unendliche Möglichkeiten in sich trägt, die den schönen Moment zunichte machen können.

So gönnen uns Baltscheit und Schwarz noch einen kleinen Nachtrag. Eine vorbeifliegende Meise, die auf ihr »Hallo« auch keine Antwort erhält. Sie interpretiert die Situation richtig, denn schließlich schläft der Flamingo, und wünsch ihm einfach eine »Gute Nacht.«

So einfach könnte das Leben sein. Und der Flamingo? Der öffnet auf der allerletzten Seite dann sein Auge. Ein augenzwinkernder Abschied aus einem ganz besonderen Bilderbuch.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Martin Baltscheit und Christine Schwarz: Schon gehört?
Weinheim: Beltz & Gelberg 2014
40 Seiten, 13,95 Euro
Bilderbuch ab 5 Jahren

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