Indiebookday 2015 | Interview: Albert Eibl über den Verlag ›Das vergessene Buch‹
Wiedersehen bereitet meist Freude! Diese Freude an »Vergessener Literatur« möchte ein junger Wiener Verlag nun mit seinen LeserInnen teilen. JÖRG FUCHS hat nachgefragt: Wie findet man vergessene Literatur? Darf Literatur vergessen werden? Und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die zunehmende Digitalisierung?
»Vergessene Literatur« erkennt man meist daran, dass sie recht unvermittelt wieder auftaucht. Sei es ein verliehenes Buch, das man innerlich bereits abgeschrieben hatte, oder der eselsohrige Schmöker, welcher sich nach nächtlichem Lesemarathon folgetags aus den Tiefen einer Sofaritze ans Tageslicht quält. Vergessener Literatur kann man sich aber auch professionell widmen – so wie Verlagsgründer Albert Eibl, mit dem wir über vergessene Literatur gesprochen haben.
Die Möglichkeit des »Vergessens« ist existenziell für das Leben. Darf das auch für Literatur gelten?
Nicht wenn man unter »Vergessen« die systematische Auslöschung von literarischen Werken aus dem kulturellen Gedächtnis der Menschheit versteht. Wenn mich im tagtäglichen Leben meine Erinnerung im Stich lässt und ich ein persönliches Erlebnis oder ein historisches Ereignis vergesse, weiß ich es ja auch zu schätzen, wenn ich mein mir kurzfristig entfallenes Wissen in Bibliotheken, im Netz oder im Gespräch mit Bekannten und Freunden wieder auffrischen kann. Dieses »Erinnern« – die Möglichkeit zur Wiederverinnerlichung von etwas bereits Bekanntem – halte ich gerade im Bereich der Literatur für eine essenzielle Produktivkraft.
Der Das vergessene Buch – Verlag hat sich auf die Fahnen geschrieben, »vergessene Literatur« wieder zugänglich zu machen. Wie »findet« man vergessene Literatur? Nach welchen Kriterien wählen Sie aus?
Vergessene literarische Werke zu finden, ist an sich gar nicht so schwer. Schon ein kurzer Besuch in einem größeren Antiquariat fördert eine beeindruckende Vielzahl an Büchern zutage, die nicht mehr verlegt sind. Über diese Bücher und ihre Autoren wird weder geschrieben noch geredet. Der Kulturbetrieb verliert kein Wort über sie, weil er nicht weiß, dass es sie gibt, und so befinden sich diese Werke in einem unfreiwilligen Zustand der Verdammung – weit außerhalb der Reichweite des zeitgenössischen Lesers, der begreiflicherweise nicht lesen kann, was er nicht kennt.
Unter diesen unzähligen vergessenen Werken die wenigen echten Perlen aufzuspüren, die es wert sind, für den heutigen Leser wiederentdeckt zu werden – also jene Werke, die auch den Leser des 21. Jahrhunderts rühren, aufrütteln und zur Reflexion anregen können – ist schon deutlich schwieriger und hat viel Ähnlichkeit mit einer Schatzsuche auf unwegsamem Gebiet.
Wenn man keinen vielversprechenden Tipp bekommen hat (meinem Herausgeber Johann Sonnleitner sei hier in Bezug auf Maria Lazar noch einmal ausdrücklich gedankt), muss man wohl oder übel nach dem altbekannten trial and error – Prinzip verfahren: Man nimmt sich eine zurückliegende literarische Epoche vor, liest sich durch Stapel an alten Feuilletons, liest Tagebücher bereits im Kanon etablierter Autoren aus der gewünschten Zeit und stößt mit etwas Glück auf den ein oder anderen unbekannten Namen, der den führenden Köpfen des damaligen Kulturbetriebs wohl geläufig gewesen sein musste, der heute aber keine nennenswerten Treffer mehr in Google erzielt. Dann macht man sich am besten auf zur Nationalbibliothek und leiht sich die Bücher desjenigen Autors aus, den man im Auge hat und hofft beim Aufschlagen eines dieser Bücher darauf, auf etwas Großes gestoßen zu sein. Bei Maria Lazar (1895-1948), unserer ersten vergessenen Autorin – deren 1920 erstmals erschienenen Debütroman ›Die Vergiftung‹ ich im Dezember letzten Jahres neu verlegt habe – kann man wohl von einem solchen Glücksfund sprechen.
Es gab stets Epochen, die das »Vergessen« von Literatur vorantrieben – z.B. die Zeit des Nationalsozialismus mit ihrer systematischen Vernichtung von Literatur oder die »Wende«, mit der die DDR-Literatur endete. Welche literarischen Epochen sind für Sie interessant und ergiebig?
Vor allem die deutschsprachige Exilliteratur zur Zeit des Dritten Reichs scheint mir ein Feld zu sein, auf dem noch echte Entdeckungen zu machen sind. Trotz neuerer lobenswerter Versuche einiges Licht auf dieses noch in weiten Teilen unerschlossene literarische Gebiet zu werfen (wie dies zum Beispiel Volker Weidermann in seinem ›Buch der verbrannten Bücher‹ oder Armin Strohmeyer in seinem Buch ›Verlorene Generation‹ versucht hat), sind viele Autorinnen und Autoren, die vor dem Machtantritt der Nazis weithin geschätzt und bekannt waren, noch immer nicht von der Literaturgeschichtsschreibung rehabilitiert worden. Das zeigt sich ganz besonders im Bereich der österreichischen Literatur von Frauen. Hier muss noch einiges nachgeholt werden. Ein offenkundiger Missstand, dem unser Verlag zumindest im Kleinen Abhilfe schaffen will.
Ein Fall wie der Maria Lazars, einer äußerst vielseitigen und in den Dreißigerjahren auch literarisch erfolgreichen Autorin, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft und ihrem schon 1933 erfolgten, freiwilligen Gang ins Dänische Exil in der Aufbruchsstimmung der Nachkriegszeit schlichtweg vergessen wurde und bis heute vergessen blieb, ist zwar selten. Es handelt sich aber keineswegs um einen Einzelfall.
Sie sagen: »Die wenigsten Bücher sind es wert, vergessen zu werden!« Für welche Bücher gilt das Gegenteil? Welche »vergessene« Literatur werden wir im DVB – Verlag nicht wiederentdecken?
In einem Wort: Schlechte.
E-Books und E-Book-Verlage sprießen wie Pilze aus dem Boden. Können Neue Medien das zukünftige Vergessen verhindern? Oder beschleunigen sie es?
Ja und Nein. Auf der einen Seite hält zum Beispiel das World Wide Web, wie wir alle wissen, ungeahnte Speicherpotenziale bereit, die ein beständiges Archivieren und Wiederabrufen von Literatur über Jahrtausende hinweg an und für sich gewährleisten, auf der anderen Seite ist aber nicht auszuschließen, dass beispielsweise durch einen Polsprung oder eine nukleare Katastrophe substantielle Datenträger für immer gelöscht werden könnten. Ein ungeheurer Kulturverlust wäre die Folge, gegen den sich der sagenumwobene Brand der Bibliothek von Alexandria wie ein harmloses Lagerfeuer ausnehmen würde.
Und wem ist es bei aller Akuratesse nicht schon mal passiert, dass ein Text, nachdem man ihn sorgfältig auf dem Computer abgespeichert hat, plötzlich einfach nicht mehr auffindbar ist? Da halte ich das haptisch greifbare Buch auf lange Sicht immer noch für die sicherere Variante. Einmal abgesehen davon, dass es einfach ein wesentlich tolleres Gefühl ist, ein schön gebundenes Buch aufzuschlagen und darin zu blättern, als sich im granitgrauen Kindle von Seite zu Seite fort zu tippen. So viel zur materiellen Seite des Buches.
Mit der rasanten Entwicklung der Neuen Medien seit der Jahrtausendwende und den erstaunlichen Fortschritten in medialer Technologie und globaler Vernetzung, die wir gerade in den letzten Jahren beobachten konnten, geht natürlich auch eine sozialgesellschaftlich motivierte Wandlung in unserem Umgang mit Kultur einher. Die allgemeine Tendenz scheint in Richtung einer deutlich übersteigerten Aktualitätsbezogenheit zu verlaufen, für die die Schnelligkeit des Konsums wie die Schnelligkeit des Vergessens gleichermaßen charakteristisch zu sein scheinen. Dank der Revolution des Internets leben wir heute in einer vielfach gebrochenen, kaleidoskopartig von Diskursen bestimmten Gegenwart, die nichts weniger als alle Positionen, Strömungen und Gegenströmungen, Ideen und Widerlegungen der Geistesgeschichte umfasst. Eine verwirrende Flut an Informationen, Namen und Daten, die sich da täglich auf uns ergießt und die irgendwie bewältigt werden will. Dass Werke vergangener Epochen von jedem Ort der Welt abrufbar sind und damit sofort frei werden für eine konkrete Nutzbarmachung im Jetzt, ist zumindest für die, die der der Tradition auf der Spur sind und sich Erinnern wollen ein echter Vorteil.
Das erste Buch Ihres Verlags heißt ›Die Vergiftung‹. Warum haben Sie dieses Werk ausgewählt? Was erwartet uns Leser?
›Die Vergiftung‹ ist einfach ein großartiges Stück Literatur, ein Roman des inneren Aufruhrs, der uns das Lebensgefühl einer für uns untergegangenen Zeit in eindrucksvoller, sprachlicher Intensität näherbringt. Maria Lazar schrieb ihn 1915, als sie gerademal zwanzig Jahre alt war, in einer mächtigen, vernichtenden Wendung gegen die moralisierend-restaurative Lebenswelt des Wiener Großbürgertums vor Beginn des Ersten Weltkriegs; eine Welt, die sie als das jüngste Kind einer vermögenden, jüdischen Wiener Familie bestens kannte, in der sie sich aber niemals wirklich heimisch fühlte.
In dreizehn, zyklisch angeordneten Kapiteln, die fast schon kleine Miniaturen sind, umkreist der Roman das Leben der zwanzigjährigen Protagonistin Ruth, erzählt von ihren Ängsten, Hoffnungen und Unzulänglichkeiten, von ihrer zerstörerischen Liebe zu einem namenlosen, älteren Mann und ihrem mit brutaler Vehemenz ausgetragenen Kampf gegen die Vereinnahmungsversuche der überdominanten Mutter.
Es sind nicht nur die autobiographischen Züge, die dem lange vergessenen Roman einen Nachdruck von seltener Authentizität verleihen. In Lazars rhythmischer, expressionistischer Sprache drückt sich angesichts der Heuchelei und Oberflächlichkeit ihrer Mitmenschen eine jugendlich-unbändige Wut und eine Verletzlichkeit aus, die bewegen und mitreißen, weil sie echt sind. Es ist ein Buch, das einen erstaunt und fragend zurücklässt, mit einem sonderbaren Gefühl eine lange Reise gemacht zu haben zu einem Ort, den man bisher noch nicht kannte – ja von dem man nicht einmal gedacht hatte, dass es ihn geben könnte.
Nach ›Die Vergiftung‹ – was ist ihr nächstes Projekt?
Drei Jahre bevor die Nazis auch im Donaustaat die Macht übernahmen, schrieb Maria Lazar ihren schon lange vergriffenen Roman ›Die Eingeborenen von Maria Blut‹, der auf subtile Weise das Heranreifen des Nationalsozialismus in Österreich schildert. Dieser gelangte zwar 1937 in der berühmten Moskauer Exilzeitschrift Das Wort (die von Bert Brecht, Lion Feuchtwanger und Willi Bredel herausgegeben wurde) schon in Teilen zum Abdruck, wurde danach aber gründlich vergessen und erst 1958, also rund zehn Jahre nach dem Selbstmord Marias, von ihrer älteren Schwester Auguste Lazar, die ebenfalls Schriftstellerin war, in der DDR herausgegeben. Dieses erstaunliche Zeitdokument will ich Ende April einer größeren Leserschaft endlich wieder zugänglich machen. Prof. Dr. Johann Sonnleitner von der Universität Wien wird wieder als Herausgeber firmieren und wie schon für die ›Vergiftung‹ ein substantielles Nachwort beisteuern.
Danach könnte ich mir vorstellen, noch einen weiteren Roman von Lazar zu verlegen. Aber natürlich bin ich auch jederzeit für andere Autoren und Zeiten offen. Es gibt noch unzählige Werke wiederzuentdecken. Man muss nur die Augen offen halten und den Funken überspringen lassen.
Vielen Dank für das Gespräch.
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