Verschwommenes

Jugendbuch | Anne-Laure Bondoux: Von Schatten und Licht

Märchen haben sich Menschen von jeher erzählt. Im Lauf der Jahrtausende änderte sich ihre Bedeutung, manchmal waren sie wichtig, manchmal weniger, sie wurden gefördert oder verteufelt. Da sind sie immer noch und in letzter Zeit erfreulicherweise wieder häufiger. Bloß sollte nicht übersehen werden, dass Märchen, gleich, wie fantastisch sie daherkommen, im Kern eng an die jeweilige Lebensrealität ihres Publikums gebunden sind. Bondoux hat das ihrem neuesten Roman, einem Märchen, nicht beachtet und präsentiert Verschwommenes. Von MAGALI HEISSLER

Anne Laure Bondoux Von Schatten und LichtHama sieht Bo zum ersten Mal in Fabrik zwischen den Maschinen. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Das Besondere an dieser Liebe ist, dass sie zu einer Zeit und an einem Ort entsteht, in der es kaum Hoffnung gibt. Die Welt, zu der Stadt und Fabrik gehören, ist ärmlich, es herrscht Krieg, die Fabrik ist eine Waffenfabrik. Die Menschen in der Stadt leben kümmerlich, um welchen Krieg es sich handelt, wissen sie nicht. Das Leben ist nur grau.

Das Liebespaar bringt frischen Wind in die Stadt. Sogar das örtliche Varieté öffnet wieder. Einige Zeit lang sieht es so aus, als könnte die kleine Welt so bunt werden, wie sie früher einmal war. Doch dann geschieht ein Unglück in der Fabrik. Umgehend wächst die Verbitterung, man sucht Schuldige. Wer anders als das Liebespaar, aufmüpfig und auffällig, kann die Ursache sein?
Bo und Hama fliehen, um ein besseres Leben zu finden. Das wird der Beginn eines Wegs, der immer weiter führt und sich am Ende in den Nebeln verliert. Das Leben aber geht trotzdem weiter, denn die beiden haben eine Tochter.

Tunnelblick und Flickwerk

Bondoux entwirft einen seltsamen Spielort. Die Stadt, die Fabrik, der Wald, die Unterwelt, die Halbinsel an der Küste sind nur schemenhaft erkennbar. Lebendig werden sie in der sinnlichen Wahrnehmung, die Bondoux mit beträchtlicher Meisterinnenschaft zu wecken versteht. Man hört den Lärm der Fabrik, riecht Feuer, Staub, den Schweiß, der an Maschinen oder auch auf einer Bühne vergossen wird. Man spürt Wind und Regen, ebenso wie die Verzweiflung oder die Liebe.

Störend allerdings ist es, dass Bondoux ihr Bühnenbild deutlich gewollt aufbaut. Der Blickwinkel bleibt zu beschränkt. Es herrscht ein regelrechter Tunnelblick. Alles, was nicht punktgenau passt, schließt sie aus und das geschieht zulasten einer gewissen Logik. Stadt und Fabrik scheinen vom Himmel gefallen. Der behauptete Krieg wird irgendwo da draußen gekämpft. Man fertigt eben Waffen dafür, weil man Geld verdienen muss. Die ortsansässige Bevölkerung ist beispielhaft klassenlos. Konflikte sind ausschließlich individueller Natur.

Die Figuren wirken unmündig. Es sind seltsam gebrochene Wesen, die keinerlei Fragen stellen, das Gegebene als schicksalhaft bestimmt akzeptieren und daher eher vegetieren als leben. Aktiv werden sie nur, wenn Liebe oder Hass erwachen.

Da Bondoux eine gute Schriftstellerin ist, sieht sie die Lücken. Weil es sich hier um ein Märchen handelt, werden sie mit den entsprechenden Paraphernalien gefüllt. Ein Schöpflöffel Magie, eine Queste, Prophezeiungen, Lebensphilosophie und, weil wir die Aufklärung hinter uns haben, natürlich die Kunst. Daraus entsteht insgesamt jedoch alles andere als ein gutes Märchen, sondern nur Flickwerk.

Keine Fragen, bloß Antworten

Erzählt wird die Geschichte als Chronik einer Welt im Irgendwo. Im Lauf der Handlung bekommt die Chronistin auch einen Namen. Der Erzählton ist berückend. Das ist ausgezeichnet, lenkt allerdings davon ab, dass das, was als Bericht präsentiert wird, recht apodiktisch daherkommt. Die Überschriften der einzelnen Kapitel, immer ein Gegensatzpaar, Ruhe und Unruhe, Verlust und Gewinn, geben die Schlussfolgerung fix vor. Ehe die Leserin Fragen stellen kann, was es nun auf sich hat mit den auftretenden Personen, ihrem Leben und Handeln, werden bereits die Antworten geliefert. Man wird beim Lesen denkerisch fest am Gängelband gehalten. Offenbar soll niemand auf andere Gedanken kommen.

Dafür bekommt man eine zauberische Theateraufführung in allen Bereichen der Natur und der Psyche. Stadt, Land, Fluss und Meer, oberirdisch, unterirdisch, höchstes Glück, tiefstes Leid, es gibt keinen Ausweg vor der Stimme, die einer mit sanfter Entschlossenheit Triviales ins Ohr flüstert, als sei es Naturgesetz. »In der Steppe gab es nichts und niemanden.« Die individuelle Liebe ist das Wichtigste, behütet eine aber nicht vor Schlimmem. Menschliches Tun ist vergeblich, Kunst verschönert das Leben. Man muss sich selbst erkennen. Leben ist Lernen. »Beiß die Zähne zusammen und halte durch.« »Das Leben ist eine Aneinanderreihung von Trennungen.« Nur wenn man etwas von sich verliert, kann das Leben weitergehen, ein Satz, der mantraartig wiederholt wird. Das ist schon Sofaphilosophie der peinlichen Art.

Märchen und Kunst fließen ineinander im zweiten Teil der Geschichte. Das wiederum ist schön gedacht, aber zu vage gelöst. Der Mensch und sein Schatten werden hübsch mystifiziert und mit dem dankbaren Motiv Schattentheater verknüpft. In diesem Erzählstrang gibt es Gruselmomente, die die Lektüre durchaus attraktiv machen. Die Lösung ist jedoch kontraproduktiv und steht im Widerspruch zum Ausgangspunkt der Geschichte.

Die Sprache ist vorgeblich klar, entpuppt sich beim näheren Hinsehen jedoch viel zu häufig als Übermittlerin von Abgedroschenem verpackt in sauber geputzte Formulierungen. Hin und wieder wird es lyrisch oder bedeutungsvoll. Dann sieht eine rote Jacke an einem Denkmal aus wie eine blutige Träne und Lächeln blüht auf wie eine Seerose. Gold ist nur Flitter hier.

Am Ende ist die nächste Generation wieder dort angelangt, wo die Eltern aufgebrochen sind. Eine ziemliche unheimliche Version des bekannten »Und wenn sie nicht gestorben sind…« , wenn man darüber nachdenkt. Aber genau das soll man ja nicht bei diesem »Märchen«. Vielleicht ist es damit der heutigen Realität näher, als geplant.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Anne-Laure Bondoux: Von Schatten und Licht
(Tant que nous sommes vivants, 2014) Übersetzt von Maja von Vogel
Hamburg: Carlsen 2016
349 Seiten, 17,99 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren
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