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Den Zweifel sichtbar machen

Comic | ICSE 2016 Spezial: Interview mit Max und Moritz Preisträgerin Barbara Yelin

Die Verkündung des Preisträgers des Max und Moritz Preises für den besten Deutschen Comickünstler soll ja immer eine Überraschung sein. So jedenfalls kündigte Hella von Sinnen während der Max und Moritz Gala den Laudatoren Andreas C. Knigge an. Erst nach und nach während seiner Laudatio sollten Publikum und Preisträger merken, von wem überhaupt die Rede sei. Knigge aber machte diesem Zauber schnell ein Ende und verriet den Namen Barbara Yelin schon sehr früh in seiner Ansprache. Es wäre ohnehin keine große Überraschung mehr gewesen. Nicht nach der Veröffentlichung eines so gelungenen und wichtigen Comicromans wie ›Irmina‹. Über dessen Entstehungsgeschichte hat sich BORIS KUNZ mit der Autorin und Zeichnerin unterhalten.

Beste deutschsprachige Comic-Künstlerin: Barbara Yelin Copyright: Internationaler Comic-Salon Erlangen – Foto: Erich Malter, 2016
Beste deutschsprachige Comic-Künstlerin: Barbara Yelin
Abb: Internationaler Comic-Salon Erlangen – Foto: Erich Malter, 2016
TITEL kulturmagazin: Es waren Aufzeichnungen von Deiner Großmutter, die Dich zu dieser Geschichte inspiriert haben. Hast Du trotzdem eine fiktive Geschichte daraus gemacht oder ist das eher eine Biographie?
Barbara Yelin: Es ist keine Biographie, es ist der erzählerische Versuch einer Rekonstruktion. Der große Bogen der Geschichte ist durch die Biographie vorgelegt, aber es gibt so viele Lücken in dem wenigen Material, das es aus ihrer Hand gab, dass ich Vieles sowohl durch historische Recherche als auch einfach aus meiner eigenen Vorstellung, wie es gewesen sein könnte, hinzugefügt und gebaut habe. Es gibt aber keinen Teil, der sich total von dem entfernt, wie es tatsächlich gewesen sein könnte.

Ich habe natürlich Entscheidungen gefällt, die für die Dramaturgie wichtig waren, da geht es aber eher um Komprimierung und Konzentration. Die Teile, an denen ich sehr stark gearbeitet habe, waren natürlich alle Gespräche und Dialoge. So etwas gibt es ja in keiner Aufzeichnung. Es ist auch deswegen eine Fiktion. Unbedingt. Es ging mir letztlich um eine Geschichte – es ging mir nicht um meine Großmutter. Ich habe aber ihre Quellen genutzt, um eine Charakterstudie über eine beunruhigende Veränderung einer Person zu machen.

Hattest du mehr den Blickwinkel eines rekonstruierenden Historikers oder hast Du Dich eher hineinversetzt und gefragt: Was, wenn ich das gewesen wäre?
Ich wollte die Geschichte von innen heraus erzählen. Dazu muss man in jede Figur seiner Geschichte hineinschlüpfen – und dann stellt man sich diese Frage natürlich. Nur so kann ich Figuren erzählen. Ich muss sie – so weit, wie es geht – nachzeichnen, auch wenn das teilweise unangenehm ist.

Für mich war die Frage, wie diese Veränderung in dieser Person stattgefunden hat. Mir ging es um diese Zusammenkunft von Aspekten, für die man Mitgefühl hat, und Aspekten, die man verurteilt. Das, was mich interessiert und auch empört hat, war diese wahnsinnige Gleichzeitigkeit und Zwiespältigkeit: Die Figur, die zumindest anfangs eine mutige Aufbruchsstimmung in sich trug und andererseits diese Figur, die angepasst und geduckt war, keine Frage mehr stellte, wegschaute, und in die antisemitische Propaganda mit einfiel – und die damit letztlich zu einer der vielen Mitläufer und Wegschauer wurde, die damit Geschichte auch mitentschieden haben. Und die später nie mehr darüber gesprochen hat.

Das war erzählerisch eine wahnsinnig spannende, herausfordernde Frage. Gerade in Kombination mit dem Schluss der Geschichte, dem dritten Akt, der in den 1980ern spielt, wo sich Irmina und Howard noch mal treffen: Wie wird dieser Zwiespalt denn später weiter gelebt, wird das reflektiert, oder eben nicht?

Wie lief die zusätzliche Recherche ab?
Ich habe mit meiner Familie gesprochen, ich habe in Archiven noch Familienforschung betrieben, bin auch zum Bundesarchiv und habe dort in die Akten geschaut. Das war natürlich auch ein persönliches Interesse an der Familienforschung. Ich habe darüber hinaus dann Sekundärliteratur und Erinnerungen von Zeitzeugen gelesen, habe historische Sachliteratur, Romane, Filme, Tagebücher verwendet. Wichtig war für mich auch z.B. das Buch ›Opa war kein Nazi‹ von Harald Welzer, über Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis.
Es gibt zum Beispiel diese Schlüsselszene bei den Novemberpogromen. Da gibt es fast keinen Dialog, den ich mir nicht irgendwo aus einer Quelle gesucht habe. Das war mir wirklich wichtig, dass da faktisch alles authentisch ist.

Wenn man das erste Kapitel der Geschichte unvoreingenommen liest, in dem sich Irmina in England in einen schwarzen Studenten aus Barbados verliebt, erwartet man eine ganz andere Geschichte.
Stimmt. Das habe ich ja sowohl als Enkelin als auch als Autorin selbst auch erwartet, als ich diese Geschichte hörte.

Was es von dir beabsichtigt, auch im Leser diese falsche Erwartung zu evozieren?
Ja, schließlich zeichnet sich erst eine ganz andere Geschichte ab. Wir denken ja doch viel in Mustern und Geschichten, die wir schon kennen, in Modellen, die wir einordnen können. Diese Figur hat sich dieser Einordnung aber erst mal entzogen. Aber wir wollen einordnen: Da war jemand, der war letztlich gut oder böse, dagegen oder dafür. Dass das aber bei jemandem wie Irmina beides in ihrer Person zu finden ist, ist sehr verstörend. Für mich war ja interessant, eben nicht diese Einteilung vorzunehmen: Eine Frau ist ihrer Zeit voraus und wird gebrochen oder eine Frau stellt sich willig ihrem Naziehemann an die Seite – sondern die Gleichzeitigkeit von beidem, die man ja in vielen Biographien finden kann.

Comic IrminaEs ist ja aber auch nicht so, dass Irmina am Anfang eine strahlende Figur ist. Ich habe alle diese Ambivalenzen in ihrer Persönlichkeit sehr bewusst auch im ersten Kapitel schon angelegt, vor allem in den Dialogen. Da gibt es menschliche, aber auch egoistische oder naive Verhaltensweisen bei ihr. Auch in England denkt Irmina eben an sich selbst. Sie hat aber dort das Glück, ein anderes Umfeld zu haben.

Was mich bis zum Schluss interessiert und herausgefordert hat, war, die Balance hinzukriegen, erzählerisch weder zu entlasten noch zu verurteilen. Eine ebenso grundlegende Frage wie »Was hätte ich gemacht« – die man sich als Nachfahre dieser Generation natürlich stellt – war: Wie konnte es passieren, dass die Mitläufer nicht nur nicht in den Widerstand gegangen sind, sondern auch so viele nachher von nichts gewusst haben wollen. Ich wollte das von innen heraus erkunden.

Denkst du beim Entwickeln auch die »Sehgewohnheiten« der Leser mit?
Ich habe nicht bewusst eine Klischeegeschichte angefangen und dann gebrochen. Denn wie gesagt, eigentlich habe ich Irminas Zwiespältigkeit schon von Anfang an in ihr angelegt.
Aber ich habe Brüche im Erzählen versucht. Zum Beispiel hat Irmina im zweiten Teil nochmal eine Aufwallung, Deutschland zu verlassen. Das ist eigentlich ihre Szene! Die Szene, in der ihr der versprochene Job in England weggenommen wird und sie sagt: Sie geht trotzdem! Das ist vielleicht ihr mutigster Moment. Dann kommt aber der Brief, den sie an Howard geschrieben hatte, wieder zurück: Der Mann, zu dem sie will, ist anscheinend nicht mehr in England. Damit bricht ihr Aufbruchsmut wieder ein. Ein dramatischer, persönlicher Moment einer Liebesgeschichte.

Und dann kommt kommentarlos die nächste Doppelseite, dieses Aufmarschbild. Da versuche ich, ihr kleines Innenleben und die äußeren Vorgänge gegenüberzustellen – und schon zu zeigen, in was sie jetzt hineinlaufen wird. Dieses Bild ist sehr bewusst gewählt. Die Szene habe ich auf einem Foto von 1937 gefunden, das war irgendeine Schweigeminute für Hitler. Da steht aber keiner vorne und sagt den Leuten, was sie machen sollen. Die Leute standen da quasi unbeaufsichtigt und haben alle stramm den Hitlergruß gemacht. Diese Gewalt der Masse von Individuen, die schon allein in diesem Bild lag, wollte ich rüberbringen – ohne Text.

Hast Du erst die Geschichte geschrieben und dann gezeichnet oder passiert das parallel?
Ich habe immer parallel gearbeitet. Nach der Recherche habe ich angefangen zu präzisieren, worum es mir eigentlich geht: um die Liebesgeschichte oder die politische Geschichte? Bis ich gemerkt habe, es geht eben um die Veränderung dazwischen. Ich erforsche viel anhand des Zeichnens, des Skribbelns der Szenen und des Storyboards – das ist mein Werkzeug, um Geschichten zu entwickeln. Eine Szene zu entwerfen, sie durchzulesen und zu entscheiden, ob sie funktioniert oder nicht, und inwiefern ich sie noch verändern muss. Das ist wie ein Puzzle. Die Dialoge formen sich nach und nach, umso mehr sich auch die Figuren in ihrem Aussehen und ihren Bewegungen und Haltungen formen. Das geht immer wechselseitig.

Gibt es den Moment wo Du sagst: Ab jetzt entstehen die Zeichnungen, die später auch im Buch zu sehen sein werden?
Ja. Das letzte Jahr war ich damit beschäftigt, einfach Seite für Seite zu zeichnen. Aber ich habe immer noch, bis zum Schluss, etwas verändert, habe immer überarbeitet. Es gibt natürlich dann den großen Schritt von Storyboard zu finaler Seite. Das passiert am Leuchttisch. Da lege ich das Zeichenpapier auf mein Storyboard, zeichne anhand des Storyboards durch. Der Rest entsteht auf einem Papier: die Skizze, dann kommt der schwarze Buntstift, dann die Farben, dann der Pinsel, immer in Schichten. Da passiert weiterhin ein Entwicklungs- und Denkprozess. Auch an den Texten arbeite ich bis zum Schluss. Ich habe noch kurz vor Druck Dialoge geändert. Die Sprechblasen sind auch mit der Hand geschrieben, ich setze sie aber digital am Rechner in die Seiten ein. Würde ich das direkt auf die Seiten schreiben, wäre die Fehlerquelle einfach zu hoch.

Du hast Dich also sehr bewusst für Zeichnungen entschieden, bei denen auch der Leser später diese Schichten sehen und deinen Prozess nachvollziehen kann?
Das ist bewusst, und das ist vor allem aber die einzige Art, die mir für diese Geschichte möglich ist. Es ist schon so, dass ich für jede Geschichte einen passenden Stil suche. Bei Irmina hat das lang gebraucht. Ich habe die ersten 50 Seiten auch noch mal komplett neu gemacht. Das war ein längerer Prozess. Ich bin quasi das Gegenteil der Ligne Claire. Dadurch, dass der Prozess des Entwickelns immer weiter läuft, brauche ich eine Technik, die dazu taugt. Diesen Prozess sieht man dann auch in der Technik. Und das finde ich auch gut so, er soll sichtbar sein. In ›Irmina‹ sieht man das Forschende, Versuchhafte der Rekonstruktion, das wollte ich nicht glätten. Es ist erlaubt, wenn man Radierungen sieht, das spiegelt ja die Überlegungen wieder, den Zweifel und eventuell die Erkenntnis.

Ab wann war der Verlag mit an Bord?
Ich wusste von Anfang an, dass Reprodukt das Buch begleiten würde. Das war mir auch wichtig. Weil sie sich sehr gut um ihre Autoren kümmern. Ich hatte ganz klassisch eine Synopsis gemacht und 20 Beispielseiten. Daraufhin haben sie zugesagt.

Irmina Leseprobe
Abb: Reprodukt
Die Arbeit mit meinem Lektor Christian Maiwald war unheimlich wichtig. Der begleitet fast jedes meiner Projekte und war auch im Skizzenprozess schon wesentlich involviert. Ich bin sehr stark auf Austausch angewiesen. Und ich habe mit dem Historiker Dr. Alexander Korb zusammengearbeitet, der dann auch das Nachwort geschrieben hat. Der hat noch einen Fact-Check gemacht, und mir war immer hilfreich, mit ihm zu sprechen, weil er auch aus der Sicht des Historikers die Rolle der Reaktion der deutschen Bevölkerung zur Zeit der Novemberpogrome erforscht hatte.

Ich lasse auch immer viele Leute probelesen. Gerade weil ›Irmina‹ so ein Buch ist, das sehr viel Raum bietet für die eigene Überlegung, wollte ich wissen, wie sich der Leser zu der Figur verhält. Es ist ja eine sehr bewusste Entscheidung gewesen, den Erzähltext rauszulassen. Es gibt niemanden, der einem erklärt, wie die Dinge zu bewerten sind, das muss der Leser selbst machen. Ich fand es spannend, diese Lücken bewusst zu lassen: weil sie das Denken anregen.

Hat Dich auch mal der Zweifel umgetrieben, ob das Publikum überhaupt noch ein weiteres Hakenkreuzdrama will?
Das habe ich mich natürlich schon gefragt. Zumal während des Prozesses dieser Fernsehzweiteiler ›Unsere Mütter unsere Väter‹ herauskam. Der wurde sehr stark diskutiert, in Historikerkreisen genauso wie in der Presse, und er wurde auch – zurecht, wie ich finde – stark kritisiert. Da habe ich mich natürlich auch noch mal vergewissert: Wie behandele denn ich das? Der Film mag in sich rein erzählerisch gut gebaut sein, aber die Kritik war berechtigt, dass er sehr wehleidig war, mit dieser eingeschränkten Sicht: Wir haben auch gelitten. Die Dramaturgie hat doch alles getan, um die Figuren letztlich zu entlasten. Und dann diese völlig wahnsinnige Idee, dass die Figuren sich am Ende fast alle wieder treffen. Der Jude, der dem KZ entfliehen konnte, trifft sich mit seinen Jugendfreunden, die bei der Wehrmacht waren. Das kann doch nicht sein, dass das wirklich jemand für realistisch hält. Ich wollte bei Irmina genau das vermeiden: sie zu entlasten. Und trotzdem wollte ich ihr erzählerisch nahekommen.

Die Reaktionen in der Presse zu ›Irmina‹ waren sehr positiv. Hast Du auch andere Reaktionen erlebt?
Es gab erstaunlicherweise sehr wenig Kritik. Es gab ein paar Kritiken, die mir nicht gefallen haben, obwohl sie positiv waren, weil sie sehr einseitig auf das Mitleid gezielt haben. Aber das steht dem Leser natürlich frei. Ich wollte den Leser ja dazu anregen, sich selbst die Frage zu stellen, wie konsequent ist man in seinen Idealen, in seinen Grundsätzen? Ich wollte den Denkprozess anstoßen, der sich auch bei mir selbst angestoßen hat während des Machens.

Jetzt ist ›Irmina‹ ja auf Englisch erschienen – da war ich in der Vorbereitung noch einmal sehr gespannt. In Deutschland rechne ich ja mit einem relativ fundierten historischen Wissen der Leser über unsere eigene Geschichte. Funktioniert das aber auch in den USA, wo man das vielleicht nicht hat? Ich habe mir die Übersetzung deshalb auch sehr genau angeschaut. Da wurde auch das Nachwort viel wichtiger. Aber tatsächlich sind auch die englischsprachigen Kritiken sehr differenziert. Das macht mich sehr froh.

Hast du Vorbilder bei deiner Arbeit an Comics?
Natürlich bin ich noch total beeinflusst von meiner tollen Lehrerin Anke Feuchtenberger, weil sie abgesehen von einem sehr experimentellen Zeichenstil auch immer die großen Leerstellen zulässt, die dem Leser Raum geben, sich selbst in die Geschichte einzubringen und darin sozusagen widerzuhallen. Diese Radikalität wirkt noch nach, auch wenn ich schon seit 12 Jahren aus dem Studium raus bin und mich von diesem surrealistischen, experimentellen Erzählen schon sehr weit weg entwickelt habe.

Vom Stil finde ich alle die, die experimentell was probieren, oft mindblowing. Zum Beispiel Leute wie Martin Tom Diek, aber auch die Belgierin Dominique Goblet, die sichtbar beim Zeichnen ihren Stil entwickelt. Sehr überzeugend finde ich jemanden wie Manuele Fior, der oft sehr elliptisch erzählt. Bei ihm finde ich es sehr gelungen, wie das Erzählerische und die sehr organischen, handgemachten Zeichnungen zusammengehen. Und ich bin auch ein großer Mazzucchelli-Fan. Dem gelingt es immer, eine besondere Stimmung zu evozieren, eine gewisse Melancholie, etwas Erkenntnissuchendes – das begeistert mich.

Die Inspiration, wie ich erzählen möchte, kommt aber auch aus anderen Richtungen: Belletristik und viel Film vor allem. 90 Minuten Film kann man von der Länge her ganz gut mit einer Graphic Novel vergleichen. Wie elliptisch und mit welchen Brüchen Filme erzählen, kann also auch als Vorbild dienen. Es gibt ja das Ding, das man aus einem Film rausgeht und das Gefühl hat, nur durch diesen einen Film hat sich etwas in einem verändert. Das will ich auch im Comic!

Erzähl uns doch noch von Deinem nächsten Buch. Es ist ja auch eine Biographie aus der Zeit.
Das war eine Idee vom Goethe-Institut Israel. Hannah Maron ist eine deutsch-israelische Schauspielerin, die vor 2 Jahren mit über 90 gestorben ist. Sie wurde in Berlin geboren, 1933 ist ihre jüdische Familie vor den Nazis geflohen, vorher war sie in Deutschland schon ein Kinderstar. Sie stand mit Erich Kästner auf der Bühne und ist in Fritz Langs ›M – Eine Stadt sucht einen Mörder‹ das Mädchen, das den Auszählreim spricht. Nach der Flucht aus Deutschland kam sie über Paris ins damalige Palästina. Dort hat sie die ganze Staatengründung Israels miterlebt, das kulturelle Leben mitgestaltet und sich später über die Jahre zur Friedensaktivistin entwickelt – zusätzlich zu ihrem reichhaltigen schauspielerischen Leben. Sie hat Kunst und Kommerz gemacht, überall auf der Welt Theater gespielt, hat in einer Soap mitgewirkt, Filme gemacht. Sie wurde auch im Alter nicht weniger aktiv.

Es gibt einen krassen Einbruch in ihrem Leben, als sie durch Zufall in einen palästinensischen Anschlag kam, am Münchner Flughafen 1970, und dabei ein Bein verlor. Doch sie hat sich daraufhin nicht zurückgezogen oder Rachegedanken gehegt, sondern im Gegenteil ihre Friedensbemühungen um eine Aussöhnung zwischen Israel und Palästina noch sehr viel klarer und deutlicher formuliert und sich deutlich für ein autonomes Palästina ausgesprochen. Die hat sich einfach nicht unterkriegen lassen. Das ist schon auch eine Kontrafigur zu jemandem wie Irmina. Es gibt selten einen Lebenslauf, wo jemand ohne Rücksicht auf Verluste zu einer Sache steht, mit der er sich auch sehr angreifbar macht.

Vorgegeben war das Format, denn ursprünglich ist das Ganze für eine Ausstellung gedacht: Zehn Plakate mit zehn Stories über ihr Leben. Parallel dazu hat auch der israelische Künstler David Polonski (›Waltz with Bashir‹) die gleiche Aufgabe bekommen. Er hat sich für ganzseitige Illustrationen entschieden, während ich sehr dichte Erzählungen gemacht habe. Eine Episode über jede Dekade ihres Lebens. Da bin ich sehr journalistisch herangegangen, habe ihre Wegbegleiter interviewt, junge Kollegen, ihre Kinder, Theaterdirektoren. Die habe ich als Erzähler für die verschiedenen Episoden benutzt, um etwas von der Vielfältigkeit dieser Frau einzufangen. Eine sehr dichte Arbeit – und auch wieder sehr elliptisch.

Das werde ich jetzt für das Buch noch in Comicseiten umbrechen. Das Buch wird wahrscheinlich so 80 Seiten haben, etwa 40-50 Seiten daran sind dann mein Anteil. Kein dickes Buch, sondern eine kleine, komprimierte Arbeit. Das Tolle daran fand ich: Es ist wirklich gut, sich an jemanden wie sie zu erinnern. Ich habe dabei nicht nur versucht, ihre schillernden Seiten zu zeigen, sondern auch ihre Menschlichkeit, ihre Konflikte. Es hat mich sehr gefreut, dieses Projekt machen zu können.

Dann ist jetzt die letzte Folge eines Webcomics herausgekommen, den ich mit Thomas von Steinaecker gemacht hatte: ›Der Sommer ihres Lebens‹. Das wird auch ein kleines Buch bei Reprodukt geben, aber daran müssen wir noch sehr viel mehr umbauen, ein Webcomic lässt sich nicht so einfach auf Papier übertragen. Das wird dann erst nächstes Jahr rauskommen.

Und als Nächstes möchte ich schon wieder einen größeren Comic machen, von dem ich aber jetzt nicht mehr sagen kann, als dass er in der Jetztzeit spielen wird. Kein historischer Stoff. Ich will mich definitiv mit etwas von heute beschäftigen.

Liebe Barbara Yelin, vielen Dank für das Gespräch!

| BORIS KUNZ
| Titelbild: Beste deutschsprachige Comic-Künstlerin: Barbara Yelin Copyright: Internationaler Comic-Salon Erlangen – Foto: ERICH MALTER, 2016

Trägerin eines Zeitenschicksals

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