Trübe Aussichten?

Kinderbuch | Natalie Standiford: Ein Baum voller Geheimnisse

Wenn die Kindheit endet, beginnt der Ernst des Lebens, sagt man. Das klingt nicht gut. Muss ein Kind tatsächlich eines Tages auf alles verzichten, was Spaß macht? Darf nichts mehr unbeschwert und lustig sein? Das sind ja trübe Aussichten. Oder vielleicht doch nicht? Die US-amerikanische Autorin Natalie Standiford hat dazu eine sehr spannende Geschichte geschrieben. Von MAGALI HEISSLER

Natalie Standiford - Ein Baum voller GeheimnisseSommerferien! Minty ist begeistert. Endlose Wochen voller Sonne und Freizeit. Sie wird mit der besten Freundin Paz ihren gemeinsamen Lieblingssport, Roller Derby, trainieren können, ohne an Hausaufgaben denken zu müssen. Überhaupt kann sie die Schule vergessen. Nicht, dass sie nicht gern zur Schule geht, aber gerade in diesem Jahr hat sie die Grundschule beendet. Nach den Ferien steht die Middle School an, unbekanntes Terrain. Lieber nicht daran denken.

Es gibt auch sonst genug, was ein Kind in Atem hält. Die nervigen Rowdies David und Troy oder die ältere Schwester, die auf beste Teenager-Manier zicken kann. Dass die beste Freundin gleichfalls eine ältere Schwester mit seltsamen Allüren hat, verbindet nur noch mehr.

Trotzdem stimmt in diesen Sommerwochen etwas nicht, stellt Minty fest. Wieso will Paz plötzlich so oft mit Isabella zusammen sein und nicht mehr Rollschuhrennen üben? Warum ist die ältere Schwester mal traurig, mal aggressiv? Warum sind die Rowdys bösartiger als je zuvor?

Als im Wäldchen neben der Siedlung eine eigenartige Gestalt auftaucht, macht sich Minty daran, herauszufinden, was dahinter steckt. Ob es der Geist von Crazy Ike ist oder der unheimliche Fledermausmann? Und dann ist da noch dieser Baum, der auf ganz eigene Weise raunt und wispert. Bald weiß Minty kaum noch, wo ihr der Kopf steht.

Entzauberung

Standiford präsentiert die im Grund einfache Geschichte vom Ende der Kindheit und dem Übergang ins frühe Teenageralter als Geschichte einer Entzauberung. Cover und Layout betonen raffiniert die magische Welt, die den Hintergrund bildet.
Die Handlung, die genau das enthält, womit sich Kinder beim Lesen schnell identifizieren können, wird nach wenigen Seiten komplexer. Nicht nur erweitert sich Mintys Welt vor den Augen der Leserinnen und treten mehr und Figuren auf, das Ganze ist auch durchwebt von den kleinen Märchen und Legenden, die unter den Menschen kursieren.

Ein Schwesternstreit wird Anlass eines Fluchs, der tatsächlich Wirkung zu haben scheint, echte Ängste und Unsicherheiten äußern sich im öffentlich akzeptierten Gruseln vor dem märchenhaften Fledermausmann, ein ‚Hexenhaus‘ und das Modelhaus einer neu entstehenden Siedlung liegen nicht nur nebeneinander, sondern sind Zeichen für Veränderung und den Übergang vom Mystischen in eine reale Welt. Standiford ist übrigens klug genug, darauf hinzuweisen, dass auch in der neuen Welt Realität mitunter nur etwas Vermeintliches ist.

Dennoch ist ihr das Moment der Entzauberung wichtig, ein schmerzlicher Prozess, der Minty, wie so mancher Kunstfigur vor ihr, wünschen lässt, dass sie bloß nie erwachsen wird.

Tough und süß

Das geliebte Hobby Roller Derby zeigt gleich auf der ersten Seite, dass Minty tough ist, ein starkes Mädchen. Dass sie sich durchbeißen wird, bleibt im ersten Teil des Buchs fraglich, was zur Spannung noch beiträgt. Die Schwierigkeiten, vor die die Autorin sie stellt, sind beträchtlich. Die beste Freundin wendet sich ab, die ältere Schwester stört das gemütliche Familienleben massiv, die kleine Schwester der besten Freundin grollt, und zwar aus gutem Grund. Das Geheimnis, das Minty im Wald entdeckt, fordert all ihre Kraft und es bleibt nicht bei einem Geheimnis. Der ganze Ort hat auf einmal welche. Sie sind alles andere als schön.

Die Menschen um Minty fühlen sich ungeliebt, sind eifersüchtig, kleinlich, gemein. Sie leiden, sie tun Verbotenes. Das ändert sich nur, wenn Minty beginnt, Verantwortung zu übernehmen. Das ist nicht falsch gedacht und auch stimmig im Konzept, denn die Farbigkeit, die eben das Lösen von Problemen und der Einsatz für andere bringt, wird hier der Ersatz für den Verlust der kindlichen Welt, der Zauberwelt.

Was die Lösungen betrifft, so hat sich Standiford ab der zweiten Hälfte des Buchs für die süße Version entschieden. Die toughe und ziemlich gebeutelte Minty wird zu einer modernen Version eines lieblichen Engelskinds aus der Kinderbuchliteratur des 19. Jahrhunderts, dessen Einmischung Wandel in Herzen und Sinnen einleitet und allem zu einem glücklichen Ende verhilft. Das macht das Buch dann zu einer Lektüre, die ans Oberflächliche grenzt.

Die Geschichte des titelgebenden Baums, die Geheimnisse und die realistisch geschilderten Konflikte und Schwierigkeiten eines Kinderlebens kurz vor Beginn der Pubertät sind aber attraktiv genug, um jungen Leserinnen sehr vergnügte Lesestunden zu sichern. Und bei aller Süßlichkeit des Endes lohnt es sich, Minty kennenzulernen, Minty Fresh, (möglicher?) Star des Roller Derby, Minty, das unsicher-neugierige Kind und die aufrichtige, verantwortungsbewusste und einsichtige Amarinta, ihr voller Name, die sie, erwachsen, einmal sein wird.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Natalie Standiford: Ein Baum voller Geheimnisse
(2012 The Secret Tree, übers. von Claudia Max)
Hamburg: Carlsen 2016
300 Seiten, 14,99 Euro
Kinderbuch ab 10 Jahren
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