/

Realität aus zweiter Hand

Roman | Thomas Glavinic: Der Kameramörder

Thomas Glavinic ist noch keine dreißig Jahre alt und legt nun nach ›Carl Haffners Liebe zum Unentschieden‹ (1998) und ›Herr Susi‹ (2000) mit ›Der Kameramörder‹ bereits seinen dritten vorzüglichen Roman vor. Einem ganz brisanten Sujet hat sich der gebürtige Grazer gewidmet: dem sensationslüsternen Boulevardjournalismus der privaten Fernsehsender. Von PETER MOHR

Glavinic KameramoerderGlavinic hat bewusst zur Überspitzung als künstlerisches Stilmittel gegriffen. Moral wird bei ihm durch Quotenjagd ersetzt, der Informationsanspruch der Medien weicht einer besonders perfiden Form des Voyeurismus.

Hauptfiguren der Rahmenhandlung sind zwei befreundete junge Paare, die gemeinsam das Wochenende verbringen und doch nichts anderes tun, als sich durch die diversen TV-Kanäle zu »zappen«. Bei diesem postmodernen Freizeitspaß werden die vier Personen via Fernsehprogramm Zeuge eines grausamen Verbrechens.

Ein Mann bringt drei Brüder in seine Gewalt und zwingt zwei von ihnen, aus 14 Metern Höhe von einem Baum in den Tod zu springen. Der Täter hat seine scheußliche Tat per Videokamera festgehalten und einem TV-Sender anschließend das Band zugespielt. Der Doppelmord geht über den TV-Bildschirm, und der Sender rechtfertigt die Ausstrahlung mit mehr als fadenscheinigen Argumenten: »Das ist kein Sensationsvideo, es ist der hilflose Versuch zur Aufarbeitung einer Tragödie.«

Im Nu wird die ländliche Einöde von gigantischen Medienscharen bevölkert. Jeder, der sich berufen fühlt, plappert eine Betroffenheitsstellungnahme in eines der bereitgestellten Mikrofone. Auch die beiden Pärchen sind von der grausamen Tat (ganz in ihrer Nähe) gefangen genommen und kleben vor der Mattscheibe. So können sie sogar an den polizeilichen Ermittlungen live teilhaben.

Thomas Glavinic erzählt diese ungeheuerliche Geschichte in einem spröden, beinahe teilnahmslosen Protokollton. Anders als in dieser beinahe anti-ästhetischen Erzählweise hätte man ein solches Sujet wohl kaum behandeln können.

Am Schluss kommt es zu einem gleichermaßen beängstigenden, wie beinahe komödiantisch wirkenden Plot. Der Täter sitzt ganz ruhig vor dem Fernseher und erlebt von dort seine Verhaftung mit. Realität und Bildschirmrealität gehen fließend ineinander über, und man kann sich des unguten Gefühls nicht erwehren, dass der Mörder einen gewissen Stolz ob seiner medialen Präsenz fühlen könnte.

Thomas Glavinic hat genau »am Puls der Zeit gelauscht« und einen moralischen Roman geschrieben, ohne vordergründig mit erhobenem Zeigefinger zu moralisieren. Seine erschreckende Botschaft könnte lauten: Nicht die sensationslüsternen Medien sind allein schuld an diesen verwerflichen Auswüchsen, sondern auch die Zuschauer und Leser, die den Sendern und Zeitungen durch ihr Interesse Quoten und Auflagen bescheren. Ein finsteres Wechselspiel von Angebot und Nachfrage.

Diese Quintessenz ist weder falsch noch ganz neu: Neil Postman hat sie schon vor mehr als 15 Jahren in seinem Bestseller ›Wir amüsieren uns zu Tode‹ vertreten. Er schrieb darin: »Das Fernsehen stellt minimale Anforderungen an das Auffassungsvermögen und will vor allem Gefühle wecken und befriedigen.«

| PETER MOHR

Titelangaben
Thomas Glavinic: Der Kameramörder
Berlin: Verlag Volk und Welt 2001
157 Seiten, 16,50 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die fremde Freundin

Nächster Artikel

Satzsymphonien von der anderen Seite der Zeit

Weitere Artikel der Kategorie »Krimi«

Zwischen Korruption und Konfuzianismus

Roman | Qiu Xiaolong: 99 Särge In seinem siebten Fall 99 Särge verschlägt es Oberinspektor Chen Cao aus Shanghai unter die Netzbürger. An dem dubiosen Selbstmord des Direktors der Wohnungsbaubehörde der Millionenstadt sollen Aktivisten im Internet nicht unschuldig sein. Als dann auch noch ein mit dem Fall befasster Polizist am helllichten Tag überfahren wird, beginnt Chen Nachforschungen anzustellen, ohne dazu legitimiert zu sein. Von DIETMAR JACOBSEN

Ein TATORT möchte hoch hinaus

Film | Im TV: TATORT 904 – Frühstück für immer (MDR), 16. März Übel & gefährlich. Schon wieder jemand tot in der Badewanne, denkt man während der ersten Bilder, und ob das wirklich sein muss. Nein, gar nicht wahr. Die Dame duscht ja noch, und es handelt sich auch nicht um Eva Saalfeld (Simone Thomalla). Ein hübsches Kind ist diese Tochter und der Mama wie aus dem Gesicht geschnitten. Man sagt das. Doch. Sprache kann ja so gemein sein. Sicher, es geht diesmal auch um Schönheitschirurgie. Von WOLF SENFF [Foto: ORF/ARD/Steffen Junghans.] 

Dresden nach dem großen Krieg

Krimi | Frank Goldammer: Roter Rabe In den letzten Kriegsmonaten setzt die Reihe historischer Kriminalromane ein, mit denen sich der Dresdener Autor Frank Goldammer (Jahrgang 1975) seit ein paar Jahren eine große Lesergemeinde geschaffen hat. Max Heller heißt sein Protagonist und die einzelnen Romane verbinden geschickt spannende Kriminalfälle mit deutsch-deutscher Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Von DIETMAR JACOBSEN

Nun habt euch mal nicht so!

Film | Im TV: TATORT – Ohnmacht, 11. Mai Die ersten sieben Minuten von ›Ohnmacht‹ sollte man sich wie oft ansehen? Sieben Mal? Genau, nur diese sieben Minuten. Sieben Mal. Tödlich. Allein die kalte U-Bahnhof-Szene sehen, meine Güte, allein die teilnahmslosen Leute, so kalt, so abgewandt, so apathisch, so Leben auf Sparflamme. Sie schauen gar nicht hin, während neben ihnen einer erbärmlich zusammengeprügelt wird; ist das die Welt, in der wir leben? Gute Frage! Ballauf, der spontan empört ist, der sich einmischt, bekommt ebenfalls aufs Maul. Von WOLF SENFF

Wer austeilt, muss einstecken

Film | Im TV: ›TATORT‹ Niedere Instinkte (MDR), 26. April Nach zehn Minuten hab‘ ich spontan ausgeschaltet. Ich hatte glaub‘ ich nichts verstanden, kein Stück. Kindesentführung und kein Sexualdelikt. Wasserrohrbruch. Tibetanische Zen-Gesänge. Das ist zu viel, das überfordert jeden. Sicherheitshalber hab‘ ich mich aber doch noch informiert: ein bewährter, erfahrener Regisseur, ein vielversprechendes Ensemble, und zögernd hab‘ ich mich dann eingeklinkt. Von WOLF SENFF