/

Enfant perdu

Menschen | Zum Tod von Lothar Baier

Zuletzt sollte er in der Werkausgabe Jean Améry dessen beide großen Essays »Über das Altern« und »Hand an sich legen« herausgeben. Nun erfahren wir, dass Lothar Baier in Montreal selbst »Hand an sich gelegt« und den »Freitod« gewählt hat. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Nein, disponiert dazu war Lothar, im Gegensatz zu Jean Améry (der früh schon mit diesem Gedanken Umgang hatte), gewiss nicht. Aber dass er jetzt dem von ihm ebenso sehr geschätzten wie bewunderten Essayisten und Romancier auf dem »Weg ins Freie« (Schnitzler) gefolgt ist, weist (für mich) auf eine verwandte existentielle, geistespolitische Situation hin, die dem ersten »Jean Améry«-Preisträger (1985) nun alle weiteren Lebenswege ungehbar zu machen schien. Er hatte sich gegen den »Zeitgeist« gestellt, an einer Linken, die – weil nie parteipolitisch gebunden – festgehalten, wie schmal auch für sein sowohl aufklärerisch-humanes wie literarisch-moralisches »Engagement« der Boden auch zunehmend wurde.

»Heimatlos«, wie man sie in den Fünfziger/Sechziger Jahren nannte, war diese undogmatische Linke, der er sich zugehörig wusste und fühlte, für den 1942 in Karlsruhe geborenen Studenten der Germanistik, Philosophie und Soziologie und späteren Kulturjournalisten, Essayisten und Übersetzer nicht – weil er (wie der viel ältere Auschwitzhäftling Améry) jenseits der deutschen Misere in der geistigen und politischen Militanz Jean-Paul Sartres eine intellektuelle Heimat und eine sich immer wieder »engagierende«, eingreifende Instanz gefunden hatte, die er – zusammen mit dem Freund und Sartre-Übersetzer Traugott König – auch noch gegen die Angriffe der neuen »Meisterdenker« auf den Alten vom Montparnasse verteidigte, als längst die sogenannten »Neuen Philosophen« bei uns en vogue waren.

Lothar Baier lief aber nie über, machte keine Kompromisse mit den Wendigkeiten des »Zeitgeistes«, der die deutsche außerparlamentarische Linke grün-rosa integrationsbereit zeigte. In dem englischen Schriftsteller und Essayisten John Berger, der in Savoyen lebt, sah er wie in Jorge Semprun, dem Spanier in Frankreich, immer noch existente, große intellektuelle und moralische Biographien, die beispielhaft erstritten, gelebt und qua Person und Oeuvre erhalten wurden – gegen die Erosionen der Zeit. Daran konnte man sich orientieren.

Die französische Kultur, Philosophie und Literatur – dort vor allem Paul Nizon, aber auch den Julien Benda des »Verrats der Intellektuellen«, den er neu edierte – war für Lothar Baier (und wieder ganz ähnlich wie für Jean Améry) der intellektuelle und moralische Gradmesser für den Zustand der sozialen und geistigen Welt. Wie kein zweiter nachgeborener deutscher Intellektueller war Lothar Baier darin zuhause, wenngleich er seine immer durchgehaltene, leidenschaftliche, jedoch dem Pathos fremde Distanz auch in seiner geistigen Wahlheimat nicht aufgab, wie seine ebenso informativen wie höchst kritischen Bücher über »Französische Zustände« (1982) und die »Firma Frankreich« (1988) und seine historische Recherche nach den brutal von der Kirche und dem französischen Königtum ausgelöschten Katharern brillant bewiesen.

Es gab wohl auch bei Lothar Baier in den Achtziger und erst recht später in den Neunziger Jahren die Hoffnung, die wohl eher eine illusionäre Utopie war, sich selbst den deutschen Zuständen, die er bei vielen seiner Weg- und Altersgenossen und vielen Freunden sich »opportunistisch« durchsetzen sah, ganz zu entziehen und von einer materiell-ideellen Fortexistenz in Frankreich zu träumen. Dabei war sein Experiment, wie John Berger in Savoyen, sich an der Ardèche in einem selbst mit umgebauten Bauernhaus niederzulassen, gründlich gescheitert.

Aber das wieder vereinigte Deutschland nach 1989 und sein Drang, auf der Weltbühne aufzutreten, war ihm zunehmend fremd, wenn nicht gar abstoßend geworden – und seine unzeitgemäße Parteinahme für das alte Jugoslawien, das sich nationalistisch zersetzte und ethnisch »säuberte«, sah ihn eher vorsichtig an der Seite des Serbenverteidigers Peter Handke. Es machte aber einen Unterschied ums Ganze, Baier als Besucher in Alexandar Tismas Novi Sad zu sehen, statt wie Handke schwärmerisch auf dem Belgrader Bauernmarkt.

Wenn jetzt Jürgen Busche in der TAZ mit Noblesse dem einstigen politischen Gegner nachruft, Lothar Baier sei zuletzt »aus der Welt gefallen«, trifft er eine Entwicklung, die Baier genommen hatte, nachdem ihn in Deutschland, wo er von den Siebziger bis zu Beginn der Neunziger Jahre ein viel gedruckter und präsenter Kommentator, Essayist und Rezensent gewesen war, kaum noch jemand nach seiner Meinung zu den laufenden Ereignissen fragte. Gerechterweise muss man aber auch erwähnen, dass er nicht nur zunehmend verbittert und ohne Streitlust, sondern auch desinteressiert auf die heimische Szene blickte, seit er nach einer von Thomas Steinfeld vermittelten Gastprofessur in Montreal im frankophonen Kanada noch einmal neu Fuß zu fassen hoffte.

Der »Alteuropäer«, der er war und der mit dem, was man »Amerikanisierung« der Lebensverhältnisse nennt, in Montreal nichts zu tun haben wollte, hatte europäische Bodenhaftung allenfalls noch bei der linken Schweizer »Wochenzeitung« (WoZ), die mit dem deutschen linken »Freitag« Beiträge austauschte, so dass man Lothar Baiers spärliche Wortmeldungen fast nur noch dort bei uns lesen konnte.

Aber wer ihn von den alten (Frankfurter) Freunden bei seinen seltener werdenden Besuchen noch sprach und vor allem sah, bemerkte, dass ihm hier (in Deutschland) nicht mehr zu helfen war und auch dass ihm, ganz im Sinne von Amérys »Versuch über das Altern« dessen Untertitel physiognomisch sich einbeschreiben hatte: »Revolte und Resignation«. Lothar Baier war »ausgebrannt«, illusionslos, aber nicht zynisch, sondern nur abgrundtief traurig. Sein Lachen raschelte wie das des Kafkaschen Odradek.

Alles, was ihm nun noch als Lebensenergie und -hoffnung verblieben war, hatte Lothar nur noch auf die eine Karte, die eine Möglichkeit gesetzt: am äußersten Punkt französischer Kultur in der Neuen Welt, in einem multikulturellen Milieu sozial niederer Randzonen Montreals, sein künftiges Auskommen zu finden. Denn sowohl der Kontakt zur WoZ war zuletzt gestört, als auch sein Versuch einer neuen Liebe gescheitert, die in einer katastrophalen Trennung endete, welche ihn auch noch um seine letzten bescheidenen materiellen Ressourcen brachte und zutiefst gedemütigt hatte.

Wenn er jetzt, wer weiß wie, seine »Weg ins Freie« ging, hatte diese letzte »Freiheit«, die ihm geblieben war, nur einen Gewinn: die Lasten, die sich ihm auftürmten und die er nicht mehr mit seiner verbliebenen Kraft bewältigen konnte, von sich abzuschütteln. Lothar Baier ist jetzt gestorben wie viele Emigranten, denen er wie andere seiner deutschen Generation der westdeutschen Linken immer besonderes Eingedenken bewahrt hatte.

Wir sollen uns, Lothar, hast Du bei unserem letzten Treffen in Frankfurt gesagt, als wir nostalgisch in unseren alten Lebenserinnerungen kramten, »nicht zu wichtig nehmen«. Nein, das sollten wir nicht. Aber dennoch: Auf die Gefahr hin, zu pathetisch zu werden, um den Schmerz zu lindern durch Erhöhung, mir fällt im Augenblick des Abschieds auf Nimmerwiedersehn von Dir in der Ferne Heines »Enfant perdu« ein: »Verlorner Posten in dem Freiheitskriege, / Hielt ich seit dreißig Jahren treulich aus. / Ich kämpfte ohne Hoffnung, daß ich siege, / Ich wußte, nie komm ich gesund nach Haus.«

| WOLFRAM SCHÜTTE

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Betäubung und Rausch

Nächster Artikel

Ekstatischer Pessimist

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Liebenswerter Außenseiter

Menschen | Zum Tod von Walter Kappacher

Er galt viele Jahre als Geheimtipp in der literarischen Welt, sein renommierter Landsmann Peter Handke hatte sich vehement für ihn eingesetzt. Doch die große öffentliche Anerkennung errang der Schriftsteller Walter Kappacher erst 2009 nach dem Erscheinen des Romans ›Der Fliegenpalast‹. Danach wurde ihm die wichtigste literarische Auszeichnung des deutschsprachigen Raumes verliehen – der Georg-Büchner-Preis. Von PETER MOHR

Revolutionäre Landkarte

Menschen | Georg Schweisfurth: Die Bio-Revolution Georg Schweisfurth, Mitinitiator der Herrmannsdorfer Landwerkstätten und der basic AG, macht sich auf die Suche nach dem guten Geschmack. Auf den Spuren der ›Bio-Revolution‹ reist er zu einundzwanzig Bio-Betrieben in Europa, um heraus zu finden, wie ökologisch nachhaltige Landwirtschaft wirklich funktionieren kann. ›Die erfolgreichsten Bio-Pioniere Europas‹ liefern ein beeindruckendes Zeugnis dafür, wie die landwirtschaftliche Zukunft aussehen könnte. VIOLA STOCKER ließ sich aufklären.

Reaching Out: An Interview With Midfield General

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world UK artist Damian Harris has had the type of career most could only dream of. Under the alias Midfield General he has released two superb albums (Generalisation and General Disarray) and had a string of hit singles (Devil In Sports Casual, General Of The Midfield, Reach Out, etc.) By JOHN BITTLES

Ein Dichterinnen-Leben in Bildern

Comic | O.Matiychuk,O.Staranchuk,O. Gryshchenko: Rose Ausländers Leben im Wort

Eine kleine, aber feine Graphic Novel von Oxana Matiychuk aus dem unabhängigen Verlag danube books aus Ulm beschäftigt sich mit dem Leben der Poetin Rose Ausländer. Illustriert von den Künstlern Olena Staranchuk und Oleg Gryshchenko behandelt der Band in rot-grün-grau-schwarzen gedeckten Farben das Leben und Werk der jüdisch-deutschen Dichterin. Von FLORIAN BIRNMEYER

Erfolgreicher Spätzünder

Menschen | Zum Tod des Autors Hans Werner Kettenbach Für einen überaus erfolgreichen Schriftsteller fand Hans Werner Kettenbach erst ungewöhnlich spät den Weg zur Literatur, aber eigentlich ist er immer ein Spätzünder gewesen. Erst im Alter von 28 Jahren fand er einen Beruf, mit dreißig heiratete er, sein Studium schloss er mit 36 Jahren ab, und seinen ersten Roman veröffentlichte er kurz vor seinem 50. Geburtstag. Ein Porträt von PETER MOHR