Ein Greis entdeckt die Liebe

Roman | Gabriel Garcia Márquez: Erinnerungen an meine traurigen Huren

»Sex ist nur ein Trost, wenn die Liebe nicht reicht«, lautet einer der zentralen Sätze im neuen Roman von Gabriel Garcia Márquez, ›Erinnerungen an meine traurigen Huren‹. In diesem schmalen Werk des 77-jährigen Nobelpreisträgers von 1982 dreht sich alles um die Liebe, um unerfüllte Sehnsüchte, Enttäuschungen und neu entdeckte große Gefühle.
Das wäre nicht weiter aufregend, hätte der Autor nicht einen 90-jährigen Journalisten zur Hauptfigur seines Werkes gemacht. Von PETER MOHR

Traurige HurenSo erleben wir, wie ein betagter Mann als Ich-Erzähler sein Innerstes nach Außen krempelt, eine Rückschau auf sein Leben hält und von dem Wunsch beseelt ist, sich zu seinem 90. Geburtstag selbst eine Nacht mit einer Jungfrau zu schenken. Nie war der Eigenbrötler, der aus einer privilegierten lateinamerikanischen Familie stammt, verheiratet, nie hat er selbst (außer zu seiner Mutter) eine ausgeprägte emotionale Bindung zu Frauen gehabt, dafür aber Sex mit über 500 Huren. »Ich habe nie mit einer Frau geschlafen, ohne dafür zu zahlen.«

Eine befreundete Bordellbesitzerin vermittelt dem Protagonisten ein bildschönes 14-jähriges Mädchen, des Lesens und Schreibens unkundig und als Knopfnäherin in einer großen Textilmanufaktur tätig. Doch die Sehnsüchte des erstaunlich vitalen Protagonisten nach einer wilden Liebesnacht verwandeln sich abrupt in eine beinahe ehrfürchtige, subalterne Haltung. Der betagte Mann betrachtet die Schlafende wie ein Kunstwerk, tastet sie zentimeterweise bewundernd mit den Augen ab, ist allein vom Anblick verzückt und liest der Schlafenden später aus dem »kleinen Prinz« vor. Eros und Intellekt finden zu einer Symphonie des späten Glücks zusammen.

Inspiriert vom Spätwerk ›Die schlafenden Schönen‹ aus der Feder des japanischen Nobelpreisträgers Yasunari Kawabata hat Márquez ein grell leuchtendes, pathetisches Wortgemälde über die Entdeckung der Liebe im Greisenalter vorgelegt. Das mag zwar arg konstruiert wirken, ist aber bezaubernd farbenfroh und sinnenfreudig erzählt, sodass man sich als Leser völlig losgelöst an die Seite des verliebten Seniors begibt und mit ihm wie betäubt auf den gerade entdeckten Pfaden der Liebe lustwandelt.

Entdeckung des wahren Lebens

Die großen Emotionen und das beschriebene Ambiente verhalten sich allerdings beinahe antagonistisch zueinander. Die Korruption blüht, die politischen Verhältnisse sind instabil, ein allgewaltiger Zensor wacht über die Presse, sintflutartige Regenschauer gehen nieder, und die Armut und die alltägliche Gewalt entziehen sich der mitteleuropäischen Vorstellungskraft.

Inmitten dieses Chaos‘ entdeckt die Hauptfigur neue Facetten in ihrem Innenleben. Die Sonntagskolumnen, die er immer noch in schnörkelvoller Handschrift mit der Feder schreibt, lesen sich fortan wie mäßig getarnte Liebesbriefe, und als der angebetete Teenager für einige Tage verschwindet, erwachen Eifersuchts- und Rachegefühle (»ein satanischer Reiz, den sie auf mich ausübte.«) beim Protagonisten. Er zerstört blindwütig ein Bordell, weil er einen Komplott vermutet, und ist später entsetzt über die Folgen seiner Verwüstungen.

Das Ende dieser bezaubernden Geschichte (eigentlich eine Novelle und kein Roman) hält Garcia Márquez, Autor der großen Romane der Autor der großen Romane ›Chronik eines angekündigten Todes‹, ›Die Liebe in den Zeiten der Cholera‹ und ›Hundert Jahre Einsamkeit‹, bewusst in der Schwebe.

Von einer Bekannten erhält der Protagonist am Ende lediglich den Rat, um das junge Mädchen zu kämpfen. Das »wahre Leben«, so erfahren wir auf der letzten Seite, hat er nach seinem 90. Geburtstag entdeckt und daraus soviel Energie geschöpft, dass er sich schon auf seinen Hundertsten freut.

Gabriel Garcia Márquez hat ein zeitgenössisches Märchen vorgelegt, emotional vibrierend und musikalisch bis in die letzte Zeile – ein Stoff, aus dem eine große Oper gemacht sein könnte.

So tatkräftig und energiereich wie seine Hauptfigur scheint auch der Autor zu leben und zu arbeiten. Neben dem zweiten Band seiner Memoiren (›Leben, um davon zu erzählen‹) sind nun auch neue Erzählungen unter dem Titel »en agosto nos vemos« (dt. Im August sehen wir uns) avisiert.

| PETER MOHR

Titelangaben
Gabriel Garcia Márquez: Erinnerungen an meine traurigen Huren
Aus dem Spanischen von Dagmar Plötz
Köln: Kiepenheuer und Witsch Verlag 2004
160 Seiten, 16,90 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Echter Geheimtipp

Nächster Artikel

12 Dinge

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Willkommen in der heilen Welt!

Roman | Zoë Beck: Paradise City

Schon Zoë Becks letzter Roman Die Lieferantin (2017) spielte in der Zukunft. In einem düster ausgemalten Post-Brexit-England verdarb darin eine findige Online-Unternehmerin mit revolutionären Bestell- und Vertriebsmethoden der Londoner Unterwelt ihr profitables Drogengeschäft. Das kulminierte letzten Endes in einer Regierungskrise und blutigen Straßenkrawallen. Im Großbritannien der »Lieferantin« Ellie Johnson wimmelte es von gewaltbereiten Nationalisten und in die allgemeine Überwachung jedes Einzelnen war ganz selbstverständlich auch dessen Gesundheit einbezogen. Letztere rückt nun, in Paradise City, noch mehr in den Mittelpunkt. Von DIETMAR JACOBSEN

Die Würfel sind gefallen

Roman | Sascha Macht: Spyderling

Brettspiele haben in den letzten Jahren einen wahren Boom erlebt, nicht nur pandemiebedingt. Doch welche Menschen stecken hinter einem Spiel, als Autoren, Erfinder, Entwickler, Gestalter? Selten fand das Metier einen literarischen Niederschlag. Bis nun Sascha Machts Spyderling auf den Plan tritt und mit den Mitteln der puren Imagination ein unheilschwangeres, vernichtendes, boshaftes Netzwerk spinnt. Von INGEBORG JAISER

Money, Money, Money

Roman | Ernst Augustin: Gutes Geld (Neuauflage)

Im vergangenen Jahr ist Ernst Augustin 85 Jahre alt geworden. Gefeiert wurde der Schriftsteller damals nicht nur wegen seines Geburtstages, sondern auch wegen seines jüngsten Romans Robinsons blaues Haus. Die todheitere Robinsonade brachte es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises und ihren mittlerweile nahezu erblindeten Verfasser noch einmal in die Feuilletons dieses Landes. Von FLORIAN WELLE

Bonnie und Clyde in Südschweden

Roman | Hjorth & Rosenfeldt: Die Früchte, die man erntet

Drei Morde in kurzer Zeit in einer südschwedischen Kleinstadt – das verlangt nach der Anwesenheit der Reichsmordkommission. Die wird inzwischen von Vanja Lithner geleitet. Und weil sich deren Beziehung zum Kriminalpsychologen Sebastian Bergman, ihrem Vater, weitgehend normalisiert hat, wird auch der bald wieder eingespannt, um das Rätsel um den geheimnisvollen, eine Racheliste abarbeitenden Heckenschützen zu lösen. Bergman hat allerdings nach wie vor mit seiner eigenen Vergangenheit zu tun. Und schließlich ist da auch noch Vanjas Kollege und Freund Billy und dessen Verhältnis zur Gewalt. Genug Konflikte also, damit Michael Hjorth und Hans Rosenfeldt in ihrem siebten gemeinsamen Kriminalroman erneut 500 Seiten ebenso spannender wie kurzweiliger Unterhaltung abliefern können. Von DIETMAR JACOBSEN

Wie im Märchen – Rolando in Wonderland

Roman | Rolando Villazón: Amadeus auf dem Fahrrad

»Das Buch ist komplett autobiografisch und zugleich gar nicht autobiografisch«, verrät der sympathische Opernstar und Opernregisseur Rolando Villazón, der Mann mit vielen Talenten. Und so lässt man sich neugierig ein auf die gut 400 Seiten seines dritten Romans, der eines auf jeden Fall ist: eine tiefe Verehrung an Wolfgang Amadeus Mozart, charmant verpackt in eine lesenswerte Geschichte voller Tragik und Komik. BARBARA WEGMANN hat es gelesen.