Ein junger Mann mit langem Haar, Lederjacke, Köpfhörer und Kofferradio schaut realitätsfern an der Fotokamera vorbei. Wohin sein Sehfeld verschwindet, bedeutet nichts. Das Hören benötigt alle Aufmerksamkeit, denn beim Hören öffnet sich die Welt. Von KLAUS HÜBNER
Ferdinand Kriwet, der junge Mann, von dem die Rede ist, zählt zu den in Deutschland bedeutendsten Künstlern, die im und mit dem Radio elementare Beiträge zur akustischen Kunst geliefert haben. In einer aufwändig gestalteten Box mit drei Langspielplatten (Picture Discs) veröffentlicht die ›edition rz‹ erstmals drei seiner epochalen Radioarbeiten auf Tonträger – ›Apollo Amerika‹, ›Campaign‹, ›Radioball‹, ›Ball‹, ›Voice Of America‹ und ›Radio‹.
Das Aufspüren von umfangreichem akustischem Material für seine Hörtextmontagen gelang dem in Düsseldorf geborenen Künstler am Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre nur in Amerika. Hierzulande existierten öffentlich zugängliche Klangquellen nur im öffentlich-rechtlichen Radio und TV. Privatfernsehen und -radio gab es zu der Zeit hier nicht. Aber in den USA konnte Ferdinand Kriwet sich bei den schon damals unzähligen Radio- und TV-Stationen bedienen. Um Material für seinen Hörtext (und den Film und das Buch) ›Apollo Amerika‹, das die Raumfahrtexpedition ›Apollo 11‹ und die Landung auf dem Mond thematisierte, flog er 1969 nach New York, mietete dort ein Zimmer und nahm mit drei Stereo-Reporter-Tonbandgeräten die Medienreaktion auf dieses Ereignis auf. Hauptohrenmerk legte er nicht auf die technischen und wissenschaftlichen Aspekte des Projektes, sondern untersuchte »die elektrische Veröffentlichung dieses Projektes mit den Medien der Telekommunikation« (Kriwet). Der daraus montierte viertelstündige Hörtext wurde am 20.11.1969 vom WDR Köln erstmals gesendet und markiert einen absoluten Meilenstein innerhalb der akustischen Kunst.
Für seine Fußballradiotexte ging Kriwet ins Stadion – für ›Modell Fortuna‹ ins Düsseldorfer, für den in die in der LP-Box präsentierte Collage ›Ball‹ in die der Vereine, die in der Saison 1973/74 in der Bundesliga spielten. »Elf Freunde muss man sein um zu siegen.« Der Satz eines unbekannten Fußballfans resümiert die damals vorherrschende Meinung über den ethischen Charakter des Fußballspiels. Kriwet verstand es einerseits, den Zuschauern vor und nach dem Spiel mit gleichlautenden Fragen Statements zu entlocken, die von Begeisterung für das Spiel bis zur Kritik an den Spielergehältern und die Abreaktion aufgestauter Aggressivität die ganze Spannbreite des Massenphänomens Fußball behandeln. Andererseits hämmert er durch die schnelle Schnittfolge von Satzfragmenten und Reizwörtern den eigentlich absurden Stellenwert des Ballspiels zur Disposition.
Einer seiner bekanntesten Hörtexte ist die Collage ›Radioball‹, für die er 1975 den Karl-Sczuka-Preis erhielt. In dieser Arbeit collagierte Kriwet die Fußballexpertenfachsprache der Radioreporter, jonglierte mit fremden Sprachzungen, isolierte aus Einzelreportagen typisches Kauderwelsch, bastelte das Resultat neu zusammen und baute damit eine neue Realität, die durchaus real sein konnte.
Eine Fleißarbeit unvorstellbaren Ausmaßes war die Arbeit am Hörtext XVI ›Radio‹ von 1983. Kriwet erschuf damit eine akustische Clipshow der Radiosender der Welt, mit der er versuchte, »mit künstlerischen Techniken eine Hör-Vorstellung von dem zu vermitteln, was uns stetig an Stimmen umgibt, uns sprechend, singend, rauschend auf kurzen, mittleren und langen Wellen erreicht.« (Kriwet) Etwa 3.400 Transkriptionen unverständliche Laute aus fremden Ländern galt es zu transkribieren und etwa 10.000 Schnitte und Klebestellen waren notwendig, um die »gigantische Radio-Sprech-Blase« (Kriwet) in ein zwanzigminütiges Stimmen- und Geräuschinferno zu verwandeln.
| KLAUS HÜBNER
Titelangaben
Ferdinand Kriwet: Hörtexte
Radiotexts
Regensburg: edition rz 2007
ed. RZ 9003-9005.
3-LP-Box, 54 Euro