Lyrik | Ann Cotten: Nach der Welt
Worin liegt der Reiz von Texten, die nicht einfach nur erzählen, sondern vielmehr auflisten? In der Erkenntnis, die sie vermitteln, meint Ann Cotten. Überprüft von CARSTEN SCHWEDES
Wenn es eine lyrische Bewegung des 20. Jahrhunderts gibt, die gegenwärtig kaum Fürsprecher findet, so ist dies die Konkrete Poesie. Selbst ein Sympathisant wie Ulf Stolterfoht spricht von ihr (genauer gesagt von der experimentellen Literatur) als einem »abgeschlossenen Sammelgebiet«. So kam auch die abschätzige Beurteilung der Konkreten Poesie durch Sebastian Kiefer in seinem Entwurf eines Literatur-Bauhauses keineswegs überraschend.
Einspruch erhob hier jedoch Ann Cotten, die kenntnisreich und treffsicher die Mängel in Kiefers Argumentation offenlegte. Daher durfte man gespannt sein auf ihren Essayband ›Nach der Welt‹, in dem sie listenartig Texte der Konkreten Poesie und anderer literarischer Richtungen analysiert.
Cotten macht bereits im Vorwort ihres Buchs klar, dass es ihr weder um ästhetische Werturteile noch um die gesellschaftliche Funktion von Lyrik gehe, sondern ihr Interesse allein auf die in Literatur vermittelte Erkenntnis gerichtet sei. Dieses Konzept der Fokussierung auf die Erkenntnis kognitiver Prozesse, ganz in der Tradition experimenteller Poetiken stehend, ist problematisch in der Preisgabe der Ästhetik als eigenständiger Disziplin, denn ginge es lediglich um Erkenntnis, so wäre die Alltagssprache ein sinnvolleres Studienobjekt als der sprachliche Grenzfall der Literatur.
Zudem wäre es wünschenswert, eine Erklärung für die dogmatisch vorgebrachten Behauptungen zu finden, dass Dichtung Erkenntnis sei, eine spezifische Erkenntnis wohlgemerkt, die sich von anderen Erkenntnisformen, etwa linguistischen oder sprachphilosophischen, unterscheidet. Ann Cotten erwähnt die sich daraus ergebende Problematik zwar, folgt auch nicht streng ihrer erkenntnistheoretischen Vorgabe (in Nach der Welt finden sich durchaus ästhetische Werturteile), aber eine Auflösung der sich daraus ergebenden Spannungen gelingt ihr nicht.
Ebenfalls zwiespältige Folgen hat ihr Konzept der wabernden Begrifflichkeiten. So ist es einerseits sinnvoll, sich nicht in Überlegungen darüber zu verlieren, was genau unter einer Liste zu verstehen ist, sondern anhand von Beispielen pragmatisch eine Reihe listentypischer Merkmale zu erarbeiten. Auch literarische Grenzziehungen, welche Texte nun der Konkreten Poesie zuzurechnen sind und welche nicht, bleiben glücklicherweise aus.
Andererseits entspringen aus unklaren Begrifflichkeiten auch einige unklare oder zweifelhafte Aussagen, beispielsweise der von ihr verwendete Begriff der Liste als Null-Form. Die Liste behaupte vordergründig, selbst formlos zu sein und sich der Welt quasi anzuschmiegen, gleichzeitig strukturiere sie erst die Welt (gilt das nicht für Sprache im Allgemeinen ebenso wie für Listen?)
Nun ist eine Liste aber sicherlich nicht formlos, wie Cottens Versuch zeigt, aufgrund der eigenen Lesekompetenz Listen als solche zu erkennen. Ist mit »formlos« allerdings – wie der Kontext nahelegt – gemeint, dass die Form der Liste Objektivität suggeriere oder Wahrheit verbürge, so sprechen einige von Cotten herangezogenen Beispielen gegen diese Behauptung. Für das Verständnis von Jandls Gedichten »einfache satisfaktionsrechnung«, »gemischter satz« oder »naturgedich« sind Wahrheit und Objektivität völlig unerhebliche Begriffe und werden auch von Cotten in ihren Anmerkungen zu den Texten nicht erwähnt. Außerliterarische Listen wie Anwesenheits- oder Bestandslisten mögen Objektivität und Wahrheit suggerieren, für ihre literarischen Pendants muss das jedoch noch lange nicht gelten.
Zwar differenziert Cotten zwischen Alltags- und literarischen Listen, übernimmt aber verallgemeinernd Merkmale der ersteren für letztere und gelangt dann zu solch protzigen, aber in ihrem Geltungsbereich unklaren Aussagen wie »In einer sprachdeterminierten Welt ist die Liste daher eine Diktatorin, der nur mithilfe weiterer Texte ihr Platz streitig gemacht werden kann.« Diese These vom diktatorischen oder – wie es an anderer Stelle heißt – faschistischen Potenzial der Liste ist entweder eine grobe Vereinfachung oder beruht auf einer Überbewertung der Form, was etwa in Cottens Ausführung zu Heimrad Bäckers ›nachschrift‹ deutlich wird. Es sei die Eigendynamik der Liste als Mittel zur Archivierung, zur Normierung bzw. Reduktion und zur Ästhetisierung, wodurch die Liste zu einem Machtinstrument eines Systems geworden sei, in dem sowohl das die Gewalt ausübende, als auch das sie erfahrende Subjekt verschwinde.
In den Ausführungen, die diesem Fazit vorangehen, betont Cotten jedoch immer wieder den ambivalenten Charakter der Liste: So könne eine Namensliste der Opfer Identität konservieren oder sogar wiederherstellen, reduziere gleichzeitig aber auch die Identität der Opfer auf den Namen. An anderer Stelle argumentiert Cotten sogar gegen die Relevanz der Listenform und für diejenige der Listenelemente, wenn sie darauf hinweist, dass kleine Differenzen zwischen zwei Zahlen einer Liste konkretisierungsfördernde Wirkung hätten.
Die sich an diesem Beispiel manifestierende Tendenz zieht sich durch das gesamte Buch: Beachtenswert sind einzelne (jedoch keinesfalls alle) Lektürebeobachtungen, die Allgemeinaussagen erweisen sich hingegen als fragwürdig. Wenn Cotten sich – vor allem im Kapitel »Liste als Anti-Erzählung« – in manchmal nur kurz angerissenen Einzelfällen, Themen und Begrifflichkeiten verliert, entsteht der Eindruck eines permanenten Exkurses, ja, es scheint so, als würden die einzelnen Abschnitte ihres Essays wie in einer Liste aufgereiht, ohne Ziel und Folgen. Damit gelingt es in ›Nach der Welt‹ – auch aufgrund bisweilen unnötig verquerer Formulierungen – leider nicht, das Erkenntnispotenzial von Listen überzeugend darzustellen.
| CARSTEN SCHWEDES
Titelangaben
Ann Cotten: Nach der Welt
Die Listen der Konkreten Poesie und ihre Folgen
Wien: Klever Verlag 2008
221 Seiten, 19,90 Euro
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