Kollateral-Lyrik

LYRIK | Till Lindemann: In stillen Nächten

Der Rammstein-Sänger Till Lindemann hat einen Gedichtband veröffentlicht – In stillen Nächten. JAN FISCHER versucht zu verstehen, was das eigentlich soll.

lindemannOk. Weder habe ich jemals über Lyrik geschrieben – zeitgenössische Lyrik weckt mein Interesse einfach nicht – noch bin ich selbst Lyriker. Es gibt da ein paar Gedichte, aber damals war ich 18, und Umberto Eco schreibt: »Jeder hat mit 15 Gedichte geschrieben. Der echte Lyriker wirft sie dann nur irgendwann weg.« Da meine eigenen Versuche immer noch in irgendeiner Kiste vor sich hin stauben (und, nur so nebenbei, Till Lindemanns Gedichten erstaunlich ähnlich sind), qualifiziere ich mich wohl nicht.

Der Punkt ist: Was ich über Lyrik sagen kann, ohne wie ein Idiot zu klingen, ist zwar ein bisschen mehr als das, was ich damals im Deutsch-Leistungskurs auch schon hätte sagen können, aber nicht viel.

Till Lindemanns Lonely Hearts Club Band

Der Punkt ist auch: Es wäre trotzdem einfach, sich über Till Lindemanns Gedichtband In stilllen Nächten lustig zu machen. Es wäre einfach, sich irgendeine Haltung auf einem hohen Ross anzueignen, ein bisschen was über abgedroschene Reime, absichtlich kaputte, aber trotzdem auf anderer Ebene noch viel kaputtere Reimschemata, eigenartig archaische Bildwelten und unfreiwillige Komik zu sagen, mit dem Finger drauf zu zeigen und zu sagen: »Ha! So was existiert, obwohl auch viel Besseres existiert, das kein Mensch kennt!«, und von da aus könnte man leicht in Richtung des wunderbaren Topos »Untergang des Abendlandes« argumentieren, und presto, fertig ist die Rezension!

Ich habe mir das Buch zur Rezension bestellt, weil ich davor Angst hatte, dass der eine oder andere werte Kollege genau das tut – und damit In stillen Nächten vorne und hinten nicht gerecht wird. Oder, dass jemand in die andere Richtung geht und Till Lindemanns Gedichte als potenzielle oder verworfene Rammstein-Texte liest. Auch das liegt nahe: Die Motive (Mutter, Fleisch, Blut, Verfall, Sex, Vergewaltigung) sind sich sehr ähnlich, der ganze Gestus, bei dem man nie genau weiß, ob das jetzt ernst gemeint ist oder nicht findet sich in den Gedichten wieder, es reimt sich auch alles sehr hübsch.

Es tauchen zwar hin und wieder geradezu zärtliche und rührende Texte über Liebe und Verletzbarkeit auf, aber könnte trotzdem sagen: Das ist jetzt kein Gedichtband, das ist Till Lindemann, der irgendwie ein neues Unplugged-Solo-Album draußen hat, Till Lindemanns Lonely Hearts Club Band oder so könnte es heißen, und In stillen Nächten sind jetzt die Texte dazu.

Das Popkultur-Wesen

Tatsächlich muss man, wenn man Till Lindemanns Gedichte entschlüsseln möchte, sich gar nicht so sehr am Inhalt abarbeiten. Als zeitgenössische Lyrik taugen sie nicht besonders viel, obwohl man lange nach einem anderen Lyriker suchen müsste, der dem Lindemann’schen Memento-Abschaum das Wasser reichen könnte. Als Songtexte (Rammstein oder sonst wie) taugen sie aber auch nicht besonders viel. Viele der Gedichte sind vergleichsweise kurz, die längeren Texte müsste man noch einmal ordentlich überarbeiten, wenn sie in eine Songstruktur passen sollen: Als Songtexte sind das allenfalls Skizzen.

Trotzdem, und das ist das Faszinierende, wird In stillen Nächten wohl der meistverkaufte zeitgenössische Lyrikband des Jahres. Nicht, weil Till Lindemann ein Lyriker ist – so was sorgt nicht unbedingt für Verkäufe. Sondern weil er ein unvergleichliches Popkultur-Wesen ist, das ansonsten irgendwo zwischen dem Blut-und-Fleisch von Rammstein, dem ganzen dunklen Pyro-Gehabe und dem rollenden r wohnt, aber auch in Ostdeutschland. Und sich selbst als eine erstaunliche Marke in der spezifischen in dieser eigenartigen Nische, die Rammstein im in Japan, den USA, überhaupt eigentlich weltweit bewohnen etabliert hat.

Punkig in der Ecke rumpunken

Vor allem, wenn man bedenkt, dass der Weg irgendwo in einer DDR-Punkband begann. Es gibt diese wunderbare Szene in einer dieser DDR-Musikdokus, in welcher der junge Till Lindemann in einem besetzten Haus interviewt wird – irgend so ein junger Punk, der punkig in einer Ecke rumpunkt, und eigentlich nichts Zusammenhängendes sagt, aber trotzdem systemkritisch ist.

Von da bis zu In stillen Nächten ist es ein weiter Weg – dass In stillen Nächten überhaupt erschienen ist, hat sicherlich etwas damit zu tun, dass Lindemann berühmt ist. Dass das Buch so ist, wie es ist, dass die Gedichte so sind, wie sie sind, hat eher etwas damit zu tun, dass irgendwo da drin der »Mir-doch-Scheißegal-Punk« spricht, der Autorensohn, aber auch der (nicht unbelesene) Rammstein-Texter und ausgebildete Pyrotechniker.

Dieses Wesen, das alles ist Lindemann – zumindest in der Öffentlichkeit. Und es ist dieses Wesen, dass da Lyrik produziert, gar nicht so sehr, weil es kann oder muss, sondern weil sich der Kollateralschaden quasi von selbst ergibt. Dass da Lyrik entsteht, und dass sie so ist, wie sie ist ja überhaupt nicht überraschend.

»Schade, dass es das nicht gibt«

Lohnt es sich also, In stillen Nächten zu lesen? Ja, es lohnt sich. Einmal wegen der Illustrationen. Dann aber auch, weil Lindemann – das Gesamtpaket Lindemann, mit Band und Bühnenshows und Lebenslauf und allem – nicht einfach nur irgend so ein Sänger ist, sondern ein Gesamtkunstwerk, das sich lohnt, zu durchdringen. Und seine Lyrik ist ein Teil davon. Ein wichtiger Teil vielleicht sogar, weil es der Teil des Gesamtkunstwerkes ist, der einem sich erst einmal – in seiner ganzen Existenz – am allerwenigsten erschließt. »Was soll denn das jetzt wieder?«, ist eine gute Frage, die sich an In stillen Nächten stellen lässt. Nichts ist aber eine sehr unvollständige Antwort darauf.

Übrigens, noch eine Kostprobe gefällig?
Nachts im Traum stell ich mir vor
ich leite einen Damenchor
zehn Mädchen, die ich um mich schare
zusammen hundertsiebzig Jahre
und alle nackt in mich verliebt
Schade, dass es das nicht gibt.

So ist das. Finis.

| JAN FISCHER

Titelangaben
Till Lindemann: In stillen Nächten
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2013
160 Seiten. 16,99 Euro

Reinschauen
Leseprobe

| JAN FISCHER

Titelangaben
Till Lindemann: In stillen Nächten
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2013
160 Seiten. 16,99 Euro

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