und wenn / ich das Gehirn des Dichters in dünne / Scheiben zerlege, und wenn sich die / bunten Farbnuancen auf dem Schirmbild // zeigen, dann bin ich mir wieder gewiss: / das Hirn, das ist der reine Beschiss
In einem Forum für bekennende Vinylfreunde stieß ich kürzlich auf den Eintrag eines (scheinbar) noch jungen Schallplattenhörers. Dieser hatte diverse LPs nebst dazugehörigem Plattenspieler geerbt und ärgerte sich nun über das Knacken beim Abspielen der Platten, das er »von seinen CDs nicht gewohnt sei«. Ein hilfsbereiter Sammler gab daraufhin den Tipp, die Schallplatten mit einer Carbon-Bürste zu reinigen, um ihnen dadurch die elektrostatische Ladung zu nehmen – sollte dies nichts nutzen, bliebe noch die Möglichkeit einer Plattenwäsche. Ein anderer Forumsnutzer empfahl die Digitalisierung mit anschließender Störgeräuschreduzierung (ein seltsam anmutender Tipp innerhalb eines Vinylforums, aber gut).
Rein technisch mag es also möglich sein, seine alten Schallplatten ohne Knacken und Kratzen, Knistern und Rauschen zu hören – aber will man das?! Sind nicht gerade die kleinen Nebengeräusche das, was einer Platte ihre Individualität verleiht? Gehören die Macken des Objekts – beim Knutschen mit der Freundin gegen den Plattenspieler gerauscht, die Scheibe dem kleinen Bruder geliehen und fast heile wiederbekommen … – nicht zum eigenen Leben? Jedes Knacken, jeder Kratzer Zeugnis der Vergänglichkeit, Dokumentation von Erlebnissen, erlebten Gefühlen.
Daniel Ketteler, 1978 geborener Literat (neben Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften bisher zwei Einzelbände mit Kurzprosa, zudem Mitherausgeber der Literaturzeitschrift [SIC]) und Musiker (als Elektro Willi und Sohn), ist sich der Bedeutung dieser Nebengeräusche bewusst. Anstatt die Wunden seiner Vergangenheit zu leugnen oder zu versuchen, sie mit dem süßen Saft der digitalen Korrektur zu überziehen, nimmt er sich ihrer an und bietet ihnen in seinen Gedichten eine Heimstatt. ›Das Knacken in der Rille‹, erschienen als Band 21 der Lyrikreihe der Parasitenpresse Köln (die sich bei der Gestaltung des Bandes treu bleibt; cremefarbene Doppelbögen mit Pappregister-Einband), spannt dabei einen großen zeitlichen Bogen. Inspiriert durch die abstruse Atmosphäre eines Cafés (in New York, wo neben Zürich einige der enthaltenen Gedichte entstanden sind), gelangt ein Kindergartenfreund und der Tod, dessen Hundes in seine Lyrik, assoziiert durch Gerüche – Du sagst, es riecht nach Hund, / ich denke noch Gemütlichkeit und / Bürgertum, dann der Exkurs ins Riechzen-trum / und mir geht auf, was ich bei ihm vermisste. / … (aus »Tod«, nach einem Motiv von William Carlos Williams). Nicht ganz so weit zurück geht er in »Landnahme«, ein Gedicht über seine dörfliche Heimat, das er mit einer (Zitat:) »Büchner-Lenz-Variation« ausklingen lässt: Dann dreht sich plötzlich alles um / und ich erahne, wie schön es wäre, / einmal auf dem Kopf zu gehen, / den ganzen Saft im Kopf und / Luft dann in den Zehen.
Seine Gedanken mögen schweifen, seinen momentan ausgeübten »Brotberuf« als Assistenzarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik seiner schweizerischen Wahlheimat Zürich (womit er in einer langen Tradition von Ärzten steht, die zugleich auch Schriftsteller waren – der Lyriker Gottfried Benn etwa oder Alfred »Biberkopf« Döblin oder Friedrich Schiller, der zunächst als Militärarzt gearbeitet hatte …) lässt er jedoch auch in seinen Gedichten nicht hinter sich: … und wenn / ich das Gehirn des Dichters in dünne / Scheiben zerlege, und wenn sich die / bunten Farbnuancen auf dem Schirmbild // zeigen, dann bin ich mir wieder gewiss: / das Hirn, das ist der reine Beschiss.
Im abschließenden Text des Bandes erweist Daniel Ketteler seinem zweiten künstlerischen Standbein Referenz: der Musik. »Hildegard Knef (Remix)« ist ein Liebeslied im klassischen Sinne, ist geschrieben von einem ICH an ein DU, präsentiert mit einem vorgezogenen Refrain einen ungewöhnlichen Einstieg und kann beim Poetenladen probegehört werden.
Eine schöne, poetische Stimme, die den Leser/Hörer in die Vergangenheit führt, gleichzeitig eine bildreiche Gegenwart offenbart und darauf hoffen lässt, dass es für die meisten eine Zukunft zu geben scheint.
Titelangaben
Daniel Ketteler: Das Knacken in der Rille
Gedichte
Köln: Parasitenpresse 2007
14 Seiten, 5 Euro