Jugendbuch | Rachel Ward: Numbers
Ein Blick in die Augen eines beliebigen Menschen und die 15-jährige Jem sieht eine Zahl. Ein Datum. Den Tag, an dem die betreffende Person sterben wird. Wie kann man mit diesem Wissen, von dem keiner ahnt, leben? Von ANDREA WANNER
Jem kann es nicht wirklich. Zum ersten Mal erlebt sie diese Geschichte bei ihrer eigenen Mutter, einer drogensüchtigen, unglücklichen Frau, die an einer Überdosis Heroin stirbt. 10102002 war die Zahl gewesen. Am 10.10.2002 hatte sie ihre Mutter tot im Bett gefunden. Seither hat sie eine Reihe von Pflegefamilien durchlaufen, gilt als schwierig und ist am liebsten allein.
Der Countdown
Bei einem ihrer Versuche, den Menschen und dem damit verbundenen Wissen um sie zu entkommen, trifft sie ihren Klassenkameraden Spinne am Kanal, einen schlaksigen Schwarzen, der wie sie die Schule schwänzt. Ihrem eigenen Gefühl, Spinne sympathisch zu finden, kann sie nicht nachgeben, denn Jem kennt auch seinen Todestag: den 15.12.2010. Ein paar Monate noch, die Spinne zu leben hat.
Kann man überhaupt mit diesem Wissen umgehen? Jem versucht sich von Spinne fernzuhalten und findet sich immer öfter in seiner Nähe wieder. Es entsteht so etwas wie eine vorsichtige Freundschaft und eines Tages nutzen die beiden einen »schulfreien« Tag für eine Tour durch London. Ein kleiner Bummel durch die Oxford Street, ein paar Big Macs und dann stehen sie vor dem London Eye. Dort ist es die unheimliche Gabe von Jem, die den beiden das Leben rettet. Denn genau zu diesem Zeitpunkt findet ein Attentat auf das Riesenrad statt. 08122010 ist die Zahl, die Jem in den Augen von so vielen Menschen entdeckt, dass ihr das Schreckliche schlagartig klar wird. Es ist genau der Tag, der das Leben vieler Menschen kosten wird. Jem und Spinne entkommen der Katastrophe – und werden dadurch zu Verdächtigen, die verstört fliehen.
Ein Fluchtversuch
Zwei Jugendliche aus der Stadt versuchen sich durchzuschlagen: ohne ein Dach über dem Kopf, mit Geld aus einem Deal, das Spinne hätte abliefern sollen, mit ein paar Habseligkeiten in Plastiktüten. Das Handy ist tabu, weil man sie damit orten könnte. Hunger und Kälte machen den beiden zu schaffen, Dunkelheit und Angst vor dem, was sie erwartet, wenn sie geschnappt werden. Wohin sollen sie? Und Jem weiß bereits, dass Weglaufen zwecklos ist, denn Spinne hat nur noch eine Woche zu leben. Eine Woche, in denen beide zum ersten Mal in ihrem Leben irgendwie glücklich sind.
Der englischen Autorin Rachel Ward gelingt es in ihrem Debüt ›Numbers‹ übersinnliche Fähigkeiten und die Probleme von Teenagern aus einem schwierigen Milieu zu einem packenden Thriller zu verbinden, der sich letztlich an eine große philosophische Frage wagt: Ist unser Leben vorbestimmt? Spinne, der nach und nach von Jems großem Geheimnis erfährt, bringt es fassungslos auf den Punkt: »Dann steht also der Tag, an dem wir sterben, vom Moment unserer Geburt an fest?«, und seine Schlussfolgerung klingt logisch: »Das ist doch, als ob es überhaupt keine Rolle spielt, was ich tu, weil das Ende sowieso immer gleich ist.« Es ist eine raffinierte Mischung aus Unterhaltung und grundlegenden Fragen, ganz nach dem Konzept von Chicken House, dem neuen Kinder- und Jugendbuchverlag, der erfolgreiche Bücher aus England von neuen Autoren, die außergewöhnlich schreiben und rasant erzählen, auf den deutschen Buchmarkt bringen will.
Das Ende
Was hat es mit dem sogenannten Schicksal auf sich? Bleiben tatsächlich nur Fatalismus und das Warten auf etwas, das sich genau so ereignen wird? Kann man das Schicksal überwinden, das Leben aus eigenem Willen frei gestalten? Rachel Ward spielt mit dieser Frage, lässt sie von unterschiedlichen Figuren ihres Romans immer wieder neu beantworten und steigert die Spannung bis zuletzt. Aus Jem und Spinne wird ein Paar. Und was wird der 15.12.2010 bringen?
Titelangaben
Rachel Ward: Numbers. Den Tod im Blick
(Numbers, 2009) Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn
Hamburg: Chicken House 2010
368 Seiten, 13,95 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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