Jugendbuch: Lola Renn: Hier stirbt keiner
Wenn die gewohnte Welt zerstört wird und nichts mehr bleibt außer Trümmern und Asche, muss man aufgeben. Nein, sagt Lola Renn in ihrem neuesten Jugendroman, nichts dergleichen. Mit ein bisschen Vertrauen nur kann man neues Leben finden, das eigene nämlich. Von MAGALI HEIẞLER
Annika, Marek und Chris verbringen viel Zeit miteinander. Annika mit ihren fünfzehn Jahren ist die Kleine, Marek ihr großer Bruder, Chris Mareks gleichaltriger Freund. Dass Marek Annika so oft mitnimmt, hat seine Gründe. Ihre Eltern leben im Dauerkonflikt, die Geschwister haben niemanden, auf die sie bauen können im Alltag. Chris hat gleichfalls Schwierigkeiten zuhause. Die drei verstehen sich.
Mareks Tour durch die USA ist das Ende dieser Beziehung. Wie sehr, erkennt Annika im Lauf der nächsten Wochen. Marek meldet sich immer seltener, immer kürzer. Das ist nicht das Einzige, was sich ändert. Die beste Freundin geht eigene Wege, ohne Annika zu fragen. Der große Streit der Eltern folgt und die Trennung. Nicht ist mehr, wie es war. Annika hat das Gefühl, alles verloren zu haben. Der einzige, der geblieben ist, ist Chris. Für ihn wächst in ihr ein ganz neuartiges Gefühl. Angesichts all der Verluste um sie herum scheint die Angst, darauf zu bauen, allerdings unüberwindbar.
Verlassen
Renn stellt ihr junge Protagonistin vor gewaltige Probleme. Es geht dabei entgegen allen Anscheins nicht ausschließlich um den Reifeprozess eines Teenagers, sondern zunächst um die Frage, wie man mit einschneidenden Veränderungen umgeht. Diese Frage stellt sich in jedem Lebensalter. Die Veränderungen hier ergeben sich aus den Entwicklungen, die Menschen durchmachen. Annika ist anfänglich hilflose Zuschauerin, zur Passivität verurteilt, geradezu gebannt von dem Geschehen, kann sie nur zusehen, wie Bruder, Freundin, Eltern Selbstständigkeit entweder neu oder zurückerobern. Der Schreck ist groß, die Hilflosigkeit ebenso. Die Gefühle, verlassen zu sein, nicht verstanden zu werden, sich rundum einsam zu fühlen werden sehr deutlich bei der Lektüre.
Annikas Reaktion, viel unreifes Aufstampfen, aber auch echtes Leiden zeigt Renn anschaulich. Wer Einsamkeit kennt, kann mühelos mitfühlen. Renn setzt überzeugende Worte und Bilder ein. Landschaften, Stimmungen, die ganze Atmosphäre eines ungemein heißen Sommers werden dafür genutzt. Nichts ist trivial, nichts abgedroschen, dafür nah an den Gefühlswelten sehr junger Menschen. Selbst das Schneckenhaus wirkt neu wie bei der Erschaffung der Welt. Wunderbar! Wer bisher noch keine Worte gefunden hat, um profunden Einsamkeitsgefühlen Ausdruck zu verleihen, mag hier Erlösung finden.
Zugleich verhindert die Autorin das Abgleiten in Selbstmitleid oder gar in falschen Trost. Chris’ Geschichte und sein Umgang mit einem ähnlichen Problem wie Annikas helfen zum Verständnis und weisen auf Lösungswege. Das geschieht sacht, eher hingetupft als ausgeschrieben. Und wunderbar logisch, denn Chris, bereits achtzehn, ist fähig, etwas reifer mit seinen Schwierigkeiten umzugehen. Alle auftretenden Figuren aber dienen als Beispiele für Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten. Nur handeln muss man selbst, mit Blick auf die Folgen. Eine Lehre nicht nur für Teenager.
Selbständigkeit, Vertrauen, Liebe
Die große Frage, die Renn aufwirft und an der sich Annika fast die Zähen ausbeißt, lautet, wie man in einer Welt voll Unsicherheit überhaupt vertrauen soll und wem. Dass dieser Roman eine Liebesgeschichte ist, ist klar. Doch auch sie ist nicht eben gewöhnlich. Es geht nicht allein um Vertrauen und Liebe, sondern auch um Sex. Wenn schon, denn schon, ist hier das Motto, wenn schon schwierige Fragen, dann bitte keine Halbheiten und bei den Antworten schon gar nicht. Auf engem Raum werden die wichtigsten Fragen von Teenagern(!) angerissen. Hier geht es nicht um moralische Positionen Erwachsener, sehr gut. Das Problem des Altersunterschieds zwischen Chris und Annika wird raffiniert gelöst.
Bis es soweit ist, muss Annika einige Erkenntnisse verarbeiten. Zum Beispiel, dass zum Vertrauen auch die Bereitschaft gehört, offen gegenüber anderen Einstellungen zu sein. Zuhören, sich in andere hineinversetzen, manche feste Überzeugung als Irrtum und bekannte Gegebenheiten als Illusion zu erkennen. So leicht das Buch daherkommt, so gewichtig ist es. Dass man das kaum merkt, ist ein weiteres Plus.
Die Dialoge sind flott, ohne salopp zu sein, Annikas Kommentare zum Geschehen herrlich bissig, wobei ihre Verletzlichkeit nie der reinen Komik geopfert wird. Die wachsende Beziehung zwischen ihr und Chris, mit zahlreichen Unsicherheiten und Ängsten belastet, ist bezaubernd zart in den beglückenden Momenten und schmerzhaft hart, wenn es um die wahren Verhältnisse geht. Ganz klar, dass Tränen fließen, besonders am Schluss. Der gehört zu den schönsten und gleichzeitig gescheitesten in einem Jugendroman in diesem Jahr. »Jedem Anfang wohnt ein Ende inne«.
Trotzdem!
Titalangaben
Lola Renn: Hier stirbt keiner
Frankfurt am Main: Fischer 2017
283 Seiten. 12,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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