Zaro Weil, die Cambridge School of Art und viele, viele, wunderbare Bücher. Ein Gang über die 56. Internationale Kinder- und Jugendbuchmesse Bologna Anfang April. Von GEORG PATZER und SUSANNE MARSCHALL
Diesmal war alles anders. Die ›Trois Ourses‹ aus Paris haben ihre Arbeit eingestellt und waren nicht mehr am Gemeinschaftsstand ›Small World‹. Rachael Kim war zum ersten Mal nicht am Stand der Koreaner, um uns neue Bücher zu zeigen und zu übersetzen. Unsere Bar in San Ruffilo machte schon um 10 Uhr abends zu, und zu essen gab es dort auch nicht mehr so viel. Und zum ersten Mal erlebten wir einen »book launch« eines wunderbaren Buchs mit Kindergedichten, das wir – ein bisschen wenigstens – mit auf den Weg gebracht haben.
Ansonsten war alles wie immer: wundervolle Bücher, von denen wir viele, viele gekauft haben, interessante Menschen, dichte, intensive Gespräche, lange Schlangen von Illustratoren vor den Verlagsständen, gutes Essen, einiges zu trinken … denn Bologna ist ja auch »la grassa«, und außerdem trifft man in den Bars und Restaurants dann auch zufällig die Menschen, mit denen man sich auf der Messe schon unterhalten hat. Oder andersherum. So fing es auch letztes Jahr im kleinen Restaurant Il Marinaio im Beinahvorort San Ruffilo an, wo wir immer wohnen.
Am Nebentisch saßen Zaro Weil und Gareth, wir kamen ins Gespräch, wir redeten, wir verabredeten uns auf der Messe – denn natürlich waren auch sie dort. Neugierig waren sie, offen für alles, aber die Cambridge School of Art, die Anglia Ruskin University, kannten sie noch nicht. Wir schickten sie an diesen Stand, auf dem die Absolventen der Illustratorenklassen immer ihre Abschlussarbeiten zeigen, noch nicht veröffentlichte Bücher, »Dummies«. Wo man jedes Jahr spannende neue Geschichten entdecken kann: In den letzten Jahren waren es für uns Ellen Vesters mit ihrem düsteren, eindrücklichen Buch und Lele Saa mit ihrer Trauergeschichte und dem roten Schal ihrer Mutter. Dort jedenfalls fand Zaro Junli Song, gewann sie als Illustratorin und veröffentlichte ihr Buch. Und feierte das am Montag auf der Messe. Und danach mit uns in einer Osteria. Da waren wir sehr glücklich und ein bisschen stolz, dass wir eine Verbindung schaffen konnten.Das haben wir dieses Jahr weitergeführt. Denn Zaro kannte auch Katsumi Komagata nicht. Und war begeistert von ›Little Tree‹ – und wie sie vorsichtig die Seiten umblätterte und die beiden die poetisch parabelhafte Geschichte entdeckten, war anrührend zu sehen und erinnerte uns an unseren ersten Blick in dieses nobelpreisverdächtige Buch: Eine der Bibliothekarinnen von den Trois Ourses zog sich weiße Handschuhe an, blätterte andächtig und langsam und ließ uns das Buch nicht einmal anfassen. (Ich bin gespannt, wann Katsumi den Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis bekommt – der Preis ist bisher ein bisschen europalastig.)Und beinah gelang es uns auch noch, sie und Mauro Bellei miteinander bekannt zu machen, der außergewöhnliche Bücher herausgibt: eine spielerische Schule der Wahrnehmung. Aber am Mittwoch waren die beiden schon wieder Richtung Venedig unterwegs, wo sie »durch die winkligen Gassen canoodleten«, wie sie schrieb. Immerhin konnten wir ihm ihr Buch zeigen, er war sofort begeistert schon allein von der Harmonie der Gestaltung. Dem Tanzen der Wörter mit den Bildern und andersherum, dem Fluss für das Auge und wollte unbedingt eines haben.Zaros Buch hat eine lange Geschichte: Vor vielen Jahren hat sie Gedichte geschrieben, dann hatte sie einen Verlag mit 30 Angestellten, und nachdem sie den aufgegeben hat und nach Südfrankreich gezogen ist, kamen auch die Gedichte wieder zu ihr zurück. Und wieder gründete sie einen Verlag, aber nur für sich selbst, für ihre Texte. ›Cherry Moon‹ heißt das Buch, und ihr Gedicht ›strawberry‹ erinnerte mich sofort an die Gedichte von William Carlos Williams:
if I were as red as you
as sweet
as round
I’d wind up in a basket too
Es sind Gedichte über kleine Dinge, über die Natur, den Frühling, den Sommer, den Wind, über Bohnen und Fledermäuse oder Steine, ›Don’t be bored rock‹ heißt eines:
don’t be bored rock
once you were orange fire
thundering down some
mountain slope or
hurtling silver sleek
through deep sky
maybe you were thrown up
sputtering red by
an ancient fuming volcano or
born with the planet in a
starless galactic bang
to be carved sharp by ice
rounded by raging wind
but whichever it was
being still now is good
after all
you have so much to remember
Die Illustrationen von Junli Song erzählen manchmal eine andere Geschichte, vertiefen Aspekte in eine Richtung, die von den Texten höchstens angedeutet wird. Es sind Drucke in zurückhaltenden Farben, blau und rot, und das auf den ersten Blick Plakative löst sich schnell in Bewegung auf, in eine hintersinnige Mehrfachbedeutung, wenn sich die Käfer auf den Blättern räkeln oder die Pflaumen vom Baum fallen im Sommergedicht ›Plum tree (summer)‹ (es gibt noch ›spring‹, ›autumn‹ und ›winter‹), das mit den Worten endet
»winter?
never heard of it«
Witzig war das Buch von Adam Beer über einen Hund auf einer Insel, der so schön in Ruhe spielte und dann wütend wurde, als plötzlich Ausflügler mit anderen Hunden kamen, und die Diskussion darüber mit den anderen Studenten (»Don’t mention Brexit!«): Wir fanden es grade wunderbar, dass die Illustrationen in Schwarz-Weiß waren, viel kraftvoller und eindeutiger, seine Kommilitonen hatten ihn im Lauf des Studiums aber überreden können, mehr mit Farbe auszuprobieren … Beeindruckend und hintersinnig sind Lindy Nortons ›The Visitor‹ und Bethan Welbys ›Ghosted‹, eine berührende Geistergeschichte, in der es um unerledigte Geschäfte und einen geheimnisvollen Tod vor vielen Jahren geht.
Pfiffig ist auch Al Rodins Geschichte ›Lia & Lion‹, Lia und der Löwe: eine skurril verschmitzte Geschichte mit wenigen, aber pointierten Worten und abstrusen Drehungen und Wendungen, und der Strich ist genauso schelmisch lebhaft mit weichen malerischen Akzenten. Beide wollen ein Haustier haben und machen sich auf die Suche: Lia schaut nach oben, der Löwe nach unten, Lia schaut nach links, der Löwe nach rechts. Irgendwann sehen sie sich gleichzeitig und denken beide: »Das ist das passende Haustier.« Sitzen auf der Wiese und beäugen sich: ein wenig erstaunt, ein wenig misstrauisch, vor allem aber neugierig. Links die kleine Lia, die auf einem runden Stein hockt, knallrot ist ihr Hut mit der breiten Krempe, und auch ihre Stiefelchen flammen in der gleichen Farbe, rechts Lion, ein Prachtexemplar von einem Löwen mit stattlicher Mähne. Aber so geht es natürlich nicht. Wie sich die beiden zusammenraufen und was dann passiert, können wir hoffentlich alle nächstes Jahr lesen, wenn Als Buch von einem Verlag veröffentlicht worden ist.
Die Diskussion über Adams Bücher fand übrigens in unserer Stammbar in der Nähe der Piazza maggiore statt, wo wir, wieder einmal, lange saßen und nach rechts mit einem Wiener Studentenpaar, danach mit zwei älteren Französinnen redeten, und links saßen zuerst drei italienische Illustratoren aus Süditalien, die wir am nächsten Tag noch einmal auf der Messe trafen, danach eine größere Gruppe der Cambridge-Studenten. Das ist normal in Bologna, die Messe ist eher familiär, nicht vergleichbar mit Frankfurt, und man trifft sich immer wieder. Auch Zaro sind wir das erste Mal am ersten Tag mitten im Ankunftsgewühl in die Arme gelaufen. Ihr Buch ist übrigens jetzt schon auf einer englischen Liste unter die besten Kinderbücher des Jahres gewählt worden.
Ja, die Gewinner. Auch über sie gäbe es viel zu erzählen, der Bologna Ragazzi Award ist einer der wichtigsten der internationalen Kinderbuchbranche, und neben dem Schlendern und Gucken und Staunen und Entdecken ist ein Besuch der Preisgekrönten ein Muss.
Wie immer sind die Koreaner mit dabei, dieses Jahr u.a. mit einer ehrenvollen Erwähnung des Buchs ›A Shadow‹ von Chae Seung-Yeon aus dem Verlag Bandal: ein Buch, in dem sich Tiere nach und nach in einem langen Schatten versammeln, ein Löwe, eine Giraffe, ein Waschbär, ein Affe … Dann wird der Schatten immer schmaler, die Tiere müssen zusammenrücken, dann sich übereinanderstapeln wie die Bremer Stadtmusikanten. Und dann kommt der Clou … (wird nicht verraten). Ein gelungenes Werk in der Kategorie ›Opera prima‹ (erstes Werk), eine spielerische Hommage an Kinderfantasien, die allem Leben einhauchen können.
In der Kategorie »Fiction« gehen zwei Erwähnungen an ›Et puis‹ von Icinori (ein französisch-japanisches Paar, Verlag Albin Michel Jeunesse, Paris) und ›À travers‹ von Tom Haugomat (Verlag Thierry Magnier). ›Et puis‹ erzählt eine völlig verdrehte, geheimnisvolle und nicht sofort entschlüsselbare Geschichte von Wesen mit einem Hammer- oder Schraubenkopf, die Monat für Monat die Wirklichkeitskulissen verschieben und die Natur domestizieren und verbauen, sodass z.B. in einem Monat eine schaumgeborene Göttin dem Meer entsteigt, während sie im nächsten vorn am Rand steht und nicht recht weiß, wohin sie mit ihrer Muschel soll. Jedes der vielen Details findet sich auf dem nächsten Blatt in veränderter Form wieder, jede der Dutzenden Figuren hat seine eigene Geschichte, und es würde Tage brauchen, sie alle zu entschlüsseln oder auch nur nachzuverfolgen.
Haugomats Buch erzählt ohne Worte, nur durch die eindrücklichen Bilder die Geschichte eines Manns, der geboren wird, aufwächst, älter wird … auf der einen Seite ist ein Bild seiner Geschichte zu sehen, auf der gegenüberliegenden sieht man das, was er sieht: ein Buch, einen Nachbarn, die Sterne durch ein Fernglas, die Mondlandung im Fernsehen, die Raketen in Cape Canaveral, seinen alten Vater. Es ist eine anrührende Biografie, die auch in die Zukunft führt, ins Jahr 2021, in einer Drucktechnik mit nur drei Farben, sehr minimalistisch.
Bei ›New Horizons‹ ist der Gewinner ein wunderbares Kunstbuch: ›A History of Pictures (for Children)‹ von David Hockney und Martin Gayford, illustriert von Rose Blake, die uns das Buch signierte und ganz stolz eine E-Mail von Hockney zeigte, in der er ihr zu ihrer Arbeit gratulierte – schade, dass es keine Postkarte ist. Das Buch basiert auf Gesprächen zwischen dem berühmten Maler und dem Kunstkritiker. Es springt von einem Stier in der Höhle von Lascaux (15.000 vor u.Z.) zu Picassos Eule von 1952, von Jan van Eycks Arnolfinis zu Hockneys ›Mr. and Mrs. Clark and Percy‹, von der Mona Lisa zu einem Foto von Marlene Dietrich – eine anregende, bilderreiche, schlaue Art, durch die Kunstgeschichte zu führen, ohne kunstgeschichtlich schlau daherzukommen, ohne erhobenen Zeigefinger, sondern erzählend, neugierig und neugierigmachend.
Deutsche Verlage setzen mehr auf Altbewährtes wie Kuh Lieselotte vom Sauerländer Verlag: „Was bei uns funktioniert, funktioniert in anderen Ländern nicht unbedingt«, sagt Ilka Wesche vom Fischer Verlag, »aber Tiergeschichten gehen immer, wie Lieselotte.« In über 20 Sprachen ist die Kultkuh übersetzt, Spanien, Dänemark, Polen haben sogar das ganze Programm. »Und die Bücher von Gudrun Mebs«, erzählt Wesche, „sind ganz besonders in Korea beliebt«. Das neue – hurra endlich – ›Ferien nur mit Papa‹ liegt druckfrisch am Stand. »Allerdings«, sagt Anne Brans vom Hanser Verlag »verkaufen sich Kinderbücher, die literarischer sind, nicht so gut in Deutschland« – wie etwa die von Mebs oder Moeyaert – zwei herausragende und außergewöhnliche Autoren…
Bei Carlsen sind die Conni-Bücher seit über 25 Jahren ein Highlight und begeistern nicht nur in Deutschland. Ganz allgemein sind Freundschaftsgeschichten und magische Mädchenbücher sehr beliebt, wobei der Markt eher unvorhersehbar ist – so der Tenor der Verlage: Deshalb versuchen sie, mit einem vielfältigen Angebot die unterschiedlichen Ländergeschmäcker anzusprechen.
Oh, es gäbe so viel zu erzählen: von den anderen Preisen, von den deutschen Büchern und den deutschen Verlagen, dem Gastland Schweiz mit seiner Ausstellung von Büchern, illustrierten Schweizer Fachbegriffen (Berge, Ziegen, Heidi) und Illustratoren (Francesca Sanna oder Albertine, Petra Rappo haben wir dann gleich am Stand der Cambridger kennengelernt).
Von den vielen wunderbaren Büchern, die wir noch entdeckt haben, auch die von Mauro Bellei. Von den Koreanern des Verlags BIR, die uns Jin-ho Jungs Buch ›The Stars and Me‹ extra aus Korea mitbrachten, damit wir es doch noch kaufen können (das hat letztes Jahr nicht geklappt), von Jean-Vincent Sénacs Buch ›How to draw a Chicken‹, das uns der Tate-Verlag geschenkt hat, weil wir so offensichtlich begeistert davon waren, von den vier Schweizerinnen im Bus, die Kinder an die Literatur heranführen, von einigen herausgeputzten Frauen und so mancher kleinen Skurrilität am Rand ………. viel, viel, viel könnten wir erzählen.
Nächstes Jahr wieder!