Digitales | Games: Rage
All die Hochtechnologie umsonst! Was eine Gruppe von privilegierten Menschen vor der sicheren Auslöschung durch einen Kometen-Einschlag mit fatal-globalen Auswirkungen schützen soll, wird zu deren Hightech-Grab. RUDOLF INDERST wirft einen Blick auf seine mumifizierten Kollegen, ehe er als Avatar die sichere, aber arg begrenzte Bunkerwelt verlässt und in die gefährliche Welt von ›Rage‹ eintaucht.
Sind id Software die Könige der Einsilbigkeit? Lautmalerische Experimente lassen den Schluss sicherlich zu: ›Doom‹ klingt wie das BOOM! einer Comic-Explosion, ›Quake‹ eher wie das langsame Zertreten eines Frosches (gefolgt von einem FLATSCH! vielleicht). Und ›Rage‹? Das Aussprechen des Spieletitels zwingt Sprechende, ein gemeines Zähnefletschen an den Tag zu legen, wie man es eigentlich nur von Menschen fressenden, über und über mit Tribal-Motiven tätowierten, Unholden erwarten würde.
Spätestens seit den großen Anti-Utopien des 20. Jahrhunderts (›Wir‹, ›1984‹ und ›Brave New World‹) scheint sich das Credo im kulturellen Popglauben verankert zu haben, dass wir Utopien (von Eutopien traut sich erst recht niemand mehr zu sprechen) nicht mehr glauben können – und hier ist das Scheitern des »Experimentes Sowjetunion« noch nicht einmal in die Gleichung mit aufgenommen. Utopische Entwürfe lassen uns skeptisch aufhorchen, lassen uns nach dem Fehler suchen, lassen uns nach dem Preis fragen, den man glaubt, für die schöne, neue Welt bezahlen zu müssen.
Zumeist sehen wir diese mit einem anti-individualistischen Zwang, eine Aufgabe aller persönlichen Freiheit, einer Planwirtschaft, die sich auch zutiefst in das private Leben der funktionierenden Staats- oder postnationalen Bürger fräst und unauslöschliche Spuren einer radikalen Entmenschlichung durch Überwachung und Spitzeltun hinterlässt, gekoppelt. Auch ›Bioshock‹ opfert seine Marktradikalität schließlich einer negativen Wendung.
Zukunft wagen?
Nein, eine »echte« Utopie funktioniert in postmodernen Zeiten nicht mehr, nicht wenn sie über nischenhafte Träume und Visionen einzelner Splittergruppen oder charismatisch-gefährlich-wirkender Persönlichkeiten hinausgehen möchte. Spielbezogen flacher könnte die Frage lauten: Und was mache ich am Ende von ›Sim City‹? Ist meine – nur auf den ersten Blick städteplanerische, in Wirklichkeit allerdings stadtsoziologische, Utopie nicht gelungen? Habe ich nicht den idealen Ort geschaffen – haben sich nicht alle Widrigkeiten meinem Schaffenswillen, meinem Schöpferplan gebeugt? Habe ich nicht die beste aller Welten per Klick sowie »Drag and Drop« realisiert? Und nun?
Angesichts dieser Erläuterungen sollte es nachvollziehbarer werden, dass 9,5 von 10 popkulturelle Artefakte einen anderen Weg gehen. Einen Weg der De-konstruktion. Einen Weg der Zerstörung. Es sind diese virtuellen Schauplätze, in denen schaurige Dystopien zu Leben erwachen, das Lebensfeindliche zelebriert und Menschenunwürdiges in satten Farben und Tönen bebildert wird. Und mittendrin die Spieler, die zu agents of destruction, mayhem and terror werden und dieser Rolle freudigst nachkommen – manchmal einer linear strukturierten Geschichte folgend, manchmal postmodern diebisch als Guerilla-Gamer auf Freund wie Feind schießend.
Wenig ist mehr
Nun kommt also ein großbudgetierter Titel namens ›Rage‹, der seinerseits natürlich voller Referenzen postapokalyptischer Werke steckt. Mit halbem Auge entdeckt die Schar der Besprechenden schlaftrunken sofort ›Mad Max‹, öffnet sie die Augen dann gänzlich erkennt sie das gesamte Portfolio aus Teilen wie ›2019 – Dopo la caduta di New York, I nuovi barbari‹ oder ›Cold Harvest‹.
Schon unsere erste Mission in diesem Shooter, die uns ein Mann mit suspekt wirkender Sonnenbrille aufträgt und deren Sinn oder Implikation wir zu keiner Sekunde hinterfragen, führt uns zu der Behausung eines hierarchisch organisierten Kleinstammes, der – oh Wunder – nicht sonderlich begeistert ist von unserem unerbetenen, unerlaubten und bewaffneten Eindringen. Vielleicht mag es daran liegen, dass wir die erste Leiche des Stammes, über die wir stolpern, sofort plündern? Wie dem auch sei, das Unvertrauen der kleinen Schar bestrafen wir sofort; nicht, ehe auch der letzte »Aggressor« unter unserem Kugelhagel gefallen ist, ist die Mission beendet, und wir können uns weiter unserem bequemen Handlanger-Dasein widmen.
Nun, die gemeine Spielerin kennt das – schließlich haben wir schon in ›Resident Evil 5‹ in Strohhütten Gold mitgehen lassen. Ich meine, das ist durchaus legitim. Die ursprünglichen Besitzer haben sowieso nichts mehr davon. Weshalb? Ich habe sie doch selbst vor drei Minuten per Kopfschuss hingerichtet. Also.
Ich habe bisher lediglich 45 Minuten ›Rage‹ gespielt und bin sehr gespannt, wie die Geschichte des vermeintlich Zivilisierten weitergeht. Wird er sein »aufgeklärtes Erbe« weiterhin leichtfertig verraten? Wird er einen anderen Weg einschlagen (oder doch nur Köpfe der Stammesgesellschaft)? Welchen Formen der Otherness werde ich noch durch die Genrekonventionen Shooter (und meiner Schrotflinte) einen Riegel vorschieben? Wir werden sehen.