Nachtstücke

Prosa | Charles Dickens: Reisender ohne Gewerbe

Wer Dickens sagt, meint so gut wie immer dickbäuchige Romane. Seit Kurzem gibt es aber – wohl zur Feier seines 200. Geburtstags am 7.2.2012 – in der »textura«-Reihe des C.H. Beck Verlages einen schmalen Band mit dem Titel Reisender ohne Gewerbe, in dem die Übersetzerin Melanie Walz sieben journalistische Arbeiten des späten Dickens erstmals auf Deutsch herausgegeben, kommentiert & mit einem aufschlussreichen Nachwort versehen hat. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Charles Dickens Reisender ohne GewerbeAus der Biographie des Viktorianers ist bekannt, dass er lange Zeit an Schlafstörungen litt & deshalb häufig als Fußgänger in London & Umgebung unterwegs war. Die Mehrzahl der hier versammelten Reportagen, Feuilletons & Erinnerungen widmen sich der plastisch beschriebenen Schlaflosigkeit des Autors & was er vergeblich dagegen unternimmt und seinen Erlebnissen auf »nächtlichen Streifzügen« durch London oder auf der Themse.

So rechtfertigt sich auch der Untertitel dieses journalistischen Kaleidoskops als »Nachtstücke«, denn auch wenn der Autor wieder einmal »nach dem Kontinent« aufbricht, benutzt er »Die Nachtpost nach Calais«, wie eines dieser Erzählstücke verspricht & als Schilderung eines Albtraums hält.

Da es sich nur um Arbeiten aus seiner späten Zeit handelt, sind alle auf höchstem literarischen Niveau – auch das Protokoll einer »Nächtlichen Straßenszene«, mit der Dickens quasi dokumentarisch festhält, wie vor einem Armenhaus auf der Straße im Regen drei Lumpenbündel liegen, bei denen es sich um Frauen handelt, die nicht mehr in das überfüllte Armenhaus aufgenommen werden konnten. Er beschreibt auch, dass er dem Leiter des Armenhauses seine Visitenkarte übergeben lässt & dieser damit auch weiß, mit wem er es zu tun hat.

Jede dieser journalistischen Miniaturen ist meisterlich. Aber es sind zwei Phantasmagorien, die mir wegen ihres Surrealismus besonders auffällig wurden. In dem angeblichen Erinnerungsstück, das versammelt, was Dickens im Zusammenhang mit »Neujahr« einfällt, behauptet er einmal, er sehe sich in einer Tür stehen & in ein Zimmer blicken: »und meinem Blick enthüllte sich das Neujahrsfest als eine sehr lange Reihe von Damen und Herren, die mit dem Rücken zur Wand saßen und alle gleichzeitig aus kleinen gläsernen Tassen tranken, die wie Förmchen für Vanillecreme aussahen«. Was für ein Bild!

Aber ebenso erstaunlich ist jener Mann, den er am Ende eines seiner nächtlichen Streifzüge in einer gerade geöffneten Kneipe am Londoner Gemüsemarkt bei dessen seltsamem Frühstück beobachtet: »ein Mann in hochgeknöpftem und langem schnupftabakfarbenem Mantel und Schuhen und mit einem Hut als einziger Kleidung (…), und aus seinem Hut holte er eine kalte Fleischpastete heraus, diese Fleischpastete war so groß, dass sie im Hut feststeckte und das Hutfutter mit herauszog. Dieser Mann war für seine Fleischpastete bekannt, denn bei seinem Eintreten brachte ihm« der Kellner »einen Schoppen heißen Tee, ein kleines Brot und ein großes Messer, eine Gabel und einen Teller. Der Mann legte die Pastete auf den leeren Tisch, und statt sie zu zerteilen, stach er mit dem Messer von oben auf sie ein, als wäre sie sein Todfeind«.

Ein unheimlicher Augenblick in einem »Nachtstück«, als wäre es eine Film-Sequenz von Alfred Hitchcock! Ist aber »nur« eine von vielen großartigen literarischen Momenten in diesen kleinen Prosastücken von Charles Dickens.

| WOLFRAM SCHÜTTE

Titelangaben
Charles Dickens: Reisender ohne Gewerbe. Nachtstücke
Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz
München: Beck-Verlag 2012
128 Seiten. 14,96 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

NeverDead – das von Sony heißt EverQuest

Nächster Artikel

Never been better

Weitere Artikel der Kategorie »Prosa«

Gelöst

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Gelöst

Einschlafen, konstatierte Farb, sei eine komplizierte Materie.

Anne schenkte Tee nach, Yin Zhen, sah flüchtig auf das zierliche Drachendekor und stellte die Kanne zurück auf das Stövchen.

Tilman setzte sich aufrecht, zog die Arme an und bewegte die Schultern, ihn schmerzte der Nacken, die Sitzhaltung war denkbar unbequem, nicht allein in diesem Sessel, sondern die Hersteller schienen allgemein wenig Wert auf ergonomische Leitlinien zu legen, ihr Niveau ließ zu wünschen übrig, er überlegte, sich Massagen verschreiben zu lassen, der Mensch sei in jeglicher Hinsicht überspannt.

Aggressivität

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Aggressivität

Wichtig wäre, sagte Tilman, die aggressiven Anteile zu reduzieren.

Ob sie nicht tief in der menschlichen Natur verankert seien, fragte Susanne, stand auf und ging in die Küche, Tee aufzugießen, während Tilman das Service mit dem zierlichen lindgrünen Drachen aufdeckte, dazu ein Schälchen mit Hafergebäck.

Deshalb sei der Mensch mit Vernunft ausgestattet, auszugleichen, sagte Tilman, den aggressiven Anteilen Zügel anzulegen, den eigenen wie denen der umgebenden Natur, daß sie im Zaum zu halten seien.

Grönland

TITEL | Textfeld: Wolf Senff: Grönland

Sie reden vom Klimawandel, sagte Farb, und schwadronieren von seinen angeblich positiven Seiten.

Die USA haben die Insel käuflich erwerben wollen.

Ein schlechter Witz, spottete Farb, in welchen Zeiten leben wir.

Es gab sogar wiederholte Angebote.

Sie firmiert als größte Insel des Planeten, Tilman, ist zu achtzig Prozent mit einem Eisschild bedeckt, schmale Küstenstreifen sind besiedelt, doch die Temperaturen steigen und Eis schmilzt, Bodenschätze werden vermutet, seltene Erden, jeder sucht seltene Erden, da herrscht kein Mangel an Investoren.

Ausweglos

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausweglos

Walfang ist unsere tägliche Routine.

Wie meinst du das, Thimbleman?

Wir sind Teil einer Produktionskette, verstehst du, Ausguck, wir liefern die Energie, die erforderlich ist, um die Abläufe in der Stadt zu sichern – Licht in den Straßen, Schmierfett für Achsen, etc. Ohne uns sähe es schlecht aus.

So reden sie alle.

Du nicht?

Am Ende

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Am Ende

Die widrigen Abläufe, sagte Termoth, seien so offensichtlich, und weshalb stehe niemand auf, sie innezuhalten.

Wovon rede er, fragte Harmat.

Die Moderne bahne sich an, sagte Thimbleman, sie hinterlasse jetzt schon einer breite Spur der Vernichtung, du siehst es auch daran, daß die anmutigen Windjammer durch stinkende Dampfschiffe ersetzt werden, und das, sage er, sei erst der Anfang.