Wahre Helden

Jugendbuch | Els Beerten: Als gäbe es einen Himmel

Der 2. Weltkrieg liegt lang zurück, die Rolle, die Belgien in diesem Krieg gespielt hat, dürfte den meisten jugendlichen Leserinnen und Lesern unbekannt sein. Nun findet sich Els Beertens im vergangenen Jahr erschienener Roman als einziger Titel gleich zwei Mal auf der Nominierungsliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2012, einmal in der Sparte Jugendbuch, zum anderen in der Kategorie Preis der Jugendjury. Auch ANDREA WANNER ließ sich in Bann ziehen.

HimmelIm Rahmen der deutschen Westoffensive griffen am 10. Mai 1940 Verbände der deutschen Heeresgruppen das neutrale Belgien an, Belgien wurde vollständig militärisch besetzt. Für die belgische Bevölkerung gab es – vielleicht eine neue Erkenntnis für junge Leserinnen und Leser – unterschiedliche Möglichkeiten mit dieser Situation zu leben: sie wurden zu Widerstandskämpfern oder zu Kollaborateuren, die Hitler und seinem Regime zuarbeiteten. Oder sie versuchten sich aus allem möglichst rauszuhalten – wie die 5köpfige Familie Claesen. Ihr Schicksal verfolgt der knapp 600 Seiten starke Roman über die entscheidenden Kriegs- und Nachkriegsjahre hinweg.

Suchende

Was für Möglichkeiten hat man? Jef wäre gern ein Held. Seine Schwester Renée liebt Musik und schafft es als Mädchen ein untypisches Instrument, Trompete, zu lernen. Remi, der Jüngste der Familie, ist ein Sonnenschein, liebevoll bemüht, alle glücklich zu sehen aber für fast alles noch „zu klein“. Belgien im Jahr 1940. Es herrscht Krieg, die Familie muss sich einschränken, aber man lebt. Dann taucht Ward auf. Ein Junge so alt wie Jef, in dessen Klasse er geht. Ward hat seinen Vater verloren und auf eine reife Art entschlossen etwas zu tun, das die Welt besser macht. Jef möchte Ward als besten Freund an seiner Seite, Renée verliebt sich Ward und für Remi, dem er das Pfeifen auf vier Fingern beibringt, ist er ein Idol. Ward reagiert begeistert auf den Vorschlag, an der Seite der Deutschen an der russischen Front für sein Vaterland zu kämpfen und Jef lässt sich von dieser Begeisterung anstecken. Ist das ein Weg, das Richtige zu tun?

Richtig oder falsch?

Els Beerten lässt die Geschichte aus der Perspektive dieser vier jungen Menschen abwechselnd erzählen und schafft nach wenigen Seiten eine dichte, authentische Atmosphäre. Jede Sicht der Dinge, jede Entscheidung erscheint dadurch plausibel, manchmal fast zwingend. Aber es können nicht alle Wege richtig sein. Ward und Jef wählen verschiedene Wege, an deren Ende eine Katastrophe steht. Welche Entscheidung war die richtige? Gibt es im Krieg überhaupt richtige Entscheidungen? Sind die Sieger immer die Guten und die Verlierer zwangsläufig die Bösen? Beim Lesen gerät man an Stellen, die verstören, die mehr Fragen aufwerfen, als sie je beantworten können. Dazu gibt es einen konkreten historischen Hintergrund, viele moralische Fragen lassen sich losgelöst davon betrachten. Selbstachtung, Loyalität, Mut: wer zeigt wann welche Eigenschaften? Immer wieder agieren die Helden anders als erwartet, wachsen über sich hinaus oder scheitern kläglich. Man kann nur mitfiebern – und der Spannung wird dadurch, dass der Roman 1967 mit der Beerdigung von Jef beginnt, kein Deut genommen.

Es ist ein Buch, das unter die Haut geht, das einem kleine Ruhepausen gönnt, wenn Begegnungen nahezu in Echtzeit geschildert werden und das nicht nur schmerzt, wenn es uns mit an die Ostfront nimmt. Es ist mitten im Frieden ein Antikriegsbuch – gut, dass das auch die Jugendjury zu würdigen wusste.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Els Beerten: Als gäbe es einen Himmel
(Allemaal willen we de hemel, 2008)
Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler
Frankfurt: FJB im S. Fischer Verlag 2012
615 Seiten. EUR 19,95
Jugendbuch ab 16 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wie eine ausgepresste Orange

Nächster Artikel

Über den Tellerrand blicken!

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Bindungswillig

Jugendbuch | Arne Svingen: Die Ballade von der gebrochenen Nase Das stolze Individuum, ein Held, der allem trotzt und am Ende in den Sonnenuntergang trabt, aufrecht und ungebrochen in seiner emotionalen Genügsamkeit, scheint als Vorbild zu verblassen. »Kein großer Verlust«, kann man nur sagen, vor allem, wenn man sieht, was statt seiner kommt. Menschen nämlich, die bereit sind, sich auf andere einzulassen, sich zu binden. Einer von ihnen heißt Bart. Der norwegische Autor Arne Svingen erzählt uns die wild-schöne Geschichte. Von MAGALI HEISSLER

Film statt Leben

Jugendbuch | Jenn Bennett: Annähernd Alex »Wenn das passiert, von dem ich glaube, dass es passiert, hoffe ich, dass es nicht passiert!« (Meryl Streep: Der fantastische Mr Fox (2009)). Das Treffen in Online-Foren ist eine Sache, das wahre Leben eine ganz andere. Wenn man beginnt, das eine mit dem anderen zu vergleichen, wird es kompliziert. Von ANDREA WANNER

Blutvergießen

Jugendbuch | Lola Renn: Drei Songs später Eine Familie ist ein eng gestricktes Beziehungsgeflecht. Eng gespannt sind auch die Fäden der Macht, die zwischen den Beteiligten hin- und herlaufen. Was innerhalb der einen Gruppe ein schützender Kokon sein kann, in einer anderen fördernd und wegweisend, kann sich in der dritten als Diktatur auswirken, der die Schwächsten, die Kinder, schutzlos ausgeliefert sind. Solche Fäden können töten. Wer sich lösen will, muss Blut lassen. Lola Renn vergießt in Drei Songs später im wahren Sinn des Worts das Blut ihrer sechzehnjährigen Protagonistin, während diese mit ihren Eltern um ihr Leben kämpft. Von MAGALI

Verluste

Jugendbuch | Steve Tasane: Junge ohne Namen Die »Flüchtlingsfrage« beschäftigt die Menschen in Europa. Sie beschäftigt sie unter humanitären Aspekten und sie beschäftigt sie, weil viele Europa nach wie vor für bedroht halten. Was es heißt, 10 Jahre alt zu sein, alleine und auf der Flucht, erzählt Steve Tasane. Von ANDREA WANNER

Wer bin ich?

Jugendbuch | Sally Green: Half Bad. Das Dunkle in mir Keine leicht zu beantwortende Frage für einen Jungen, dessen Mutter eine Weiße Hexe war, die ein Kind mit einem Schwarzen Hexer gezeugt hat, nämlich ihn, Nathan. Hexlinge gemischter Herkunft stehen unter besonderer Beobachtung der Regierung. Und die Aufmerksamkeit, die Nathan zuteilwird, ist besonders groß, denn sein Vater ist der gefürchtetste Schwarze Hexer aller Zeiten. Von ANDREA WANNER