Jugendbuch | Maike Stein: Wir sind unsichtbar
Anders zu sein als eine Mehrheit ist in Ordnung – solange es privat bleibt. Bekennt man sich öffentlich dazu, muss man auf Sturm gefasst sein. Geschieht das Bekenntnis aber für eine andere, kann das eine Lawine auslösen, die alles unter sich begraben könnte. Maike Stein erzählt ziemlich packend davon in ihrem neuen Jugendbuch ›Wir sind unsichtbar‹. Von MAGALI HEISSLER
Als Leska ihren Eltern erzählte, dass sie lesbisch ist, war es vor allem ihre Mutter, die den Gedanken nicht ertrug. Inzwischen haben sich die Wogen geglättet, allerdings wohnt Leska nun bei ihrem Vater. Glücklich über die Trennung der Eltern ist sie nicht, ebenso wenig über die Treffen mit ihrer Mutter, der sie ihr Verhalten immer noch nicht recht verziehen hat. Was Leska aber wirklich unglücklich macht, ist, dass sie noch ungeküsst ist, wie sie es nennt. Heißt, dass sie keine Freundin hat. Darüber bloggt sie auch.
Das Ungeküsstsein wird unversehens Vergangenheit, als sie sich bei einer Party auf eine Runde Flaschendrehen einlässt. Die Flasche weist auf ein Mädchen aus Leskas Klasse. Der Kuss, eher halbherzig, verändert die ganze Welt.
Noch mehr verändert aber die Weigerung der neu gefundenen Liebsten, offen zu machen, dass auch sie lesbisch ist. Als Leska endlich erfährt, warum die Freundin sich so verhält, macht sie sich auf, die Welt zu retten. Mit einer rabiaten Aktion. Das könnte böse enden.
Mehrstimmig
Leskas Stimme hört die Leserin zweifach in diesem Buch. Einmal aus ihren Blogeinträgen, zum anderen als Erzählerin der Geschehnisse. Aus diesem doppelten Blickwinkel entwickelt sich beim Lesen die überzeugende Figur einer ca. Sechzehnjährigen. Die zunächst negative Erfahrung ihres Coming-Out hat sie forsch gemacht. Sie kann ihren Weg nur offen gehen. Ihr Blick ist eingeschränkt, sie ist fest davon überzeugt, dass das, was für sie am Ende gut ausging, auch für andere der einzige Weg ist. Als ihre Freundin übermäßig zurückhaltend reagiert, versteht Leska die Welt nicht mehr. Ihr Handeln in der Folge ist von ihrer Jugend und Unerfahrenheit bestimmt. Sie ist verliebt und unsicher, zweifelt. Sie ist trotzig, traurig, verletzt Eltern und die beste Freundin Rina.
Steins Geschichte besticht auch in diesem Punkt. Selten gewinnt in Teenager-Liebesgeschichten eine beste Freundin so klare Konturen und ist nicht nur Folie, Stichwortgeberin oder gar Ersatzmama für die Hauptfigur. Die Interaktion der beiden Mädchen in der Schule, im Blog, bei einer Party, ist ebenso überzeugend geschildert wie die sanft-schönen Liebeszenen zwischen Leska und Inken. Die Balance zwischen Haupt – und Nebenhandlung ist wunderbar ausgewogen.
In die Berichte Leskas mischen sich weitere Stimmen, etwa die Antworten auf ihre Blogbeiträge, vor allem aber die Stimme der Angst. Es ist gleich klar, wer da spricht; wovon sie erzählt, erschließt sich dagegen langsamer. Das gibt der ganzen Geschichte einen dunklen Ton, eine gewisse Erdung, die ihr sehr gut tut.
Forsch macht frei?
Melissa Etheridges ›Fearless Love‹ hat Stein als Motto für Leskas und Inkens Geschichte gewählt. Inken wünscht sich eine Drachentöterin, weil es ihr unmöglich erscheint, sich selbst zu helfen. Leska, die Forsche, tut nichts lieber, als den Kampf aufzunehmen. Die Problematik, die sich daraus für Sechzehnjährige ergibt, wird jedoch nur angerissen.
Leskas Aktion und die Reaktionen von Betroffenen wie von Freundinnen und Freunden werden zunehmend märchenhaft. Von einem lebensecht gemalten Szenario rutscht man in eines, das zu einem süßen Film gehören scheint. Die Regenbogenfarben am Ende haben einen deutlichen Stich ins rosarot.
Für die jugendliche LeserInnenschaft ist das herzergreifend, versöhnlich und bestätigt die Vorstellung, dass alles gut wird, wenn man nur zupackt. Das wünschen wir uns alle, nur sind weder die psychische Verfasstheit von Menschen noch die Verhältnisse so. Furchtlosigkeit als Antrieb zum Handeln bedeutet nicht, mit einem Ziel vor Augen loszustürmen. Furchtlosigkeit heißt, die Folgen bedenken und sich zu fragen, ob man sie wirklich aushalten kann. Das zu diskutieren, wenigstens ansatzweise, fehlt hier.
Leskas und Inkens Geschichte ist am Ende doch einfach ein süßes Märchen, in dem sich nicht nur das Liebespaar, sondern einfach alle lieb haben. Das ist schon fast wieder zum Fürchten, wäre es nicht so gut erzählt, einfallsreich, witzig und gerade in der Figurengestaltung ausgezeichnet.
Titelangaben
Maike Stein: Wir sind unsichtbar
Hamburg: Oetinger 2015
140 Seiten, 8,99 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren
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