When the woods are black as night, that is the boogeymans delight

Digitales | Games: Slender

DANIEL APPEL hat offensichtlich zum gleichen Medienartefakt wie VOLKER BONACKER gegriffen. Auch er untersucht einen momentan überall präsenten Grusler …

SlenderKinderreime und Mythen über verschiedenste Variationen des schwarzen Mannes (engl.:Boogeyman), der vorzugsweise unartige Kinder heimsucht, gibt es überall auf der Welt. Im Jahre 2009 hat ein User des Internetforums Something Awful diesen Mythenkreis im Rahmen eines Photoshop-Wettbewerbs mit dem Motto »Paranormal Pictures« um eine Facette bereichert: Den »Slenderman«. Dieser dürre, gesichtslose und mit überproportional langen Gliedmaßen gesegnete Zeitgenosse wurde nach seiner Erfindung von allerhand Usern als Vorbote eines herannahenden Unheils in verschiedenste Fotos implementiert und hat seither in bestimmten Nischen der Onlinekultur eine gewisse Popularität erlangt. Hat sich diese im Computerspiel bislang auf eine humorige Adaption des gruseligen Gesellen als »Enderman« in Minecraft und einen mäßig spannenden Puzzler-Adventure-Hybrid beschränkt, schickt sich der Entwickler Parsec Productionsan, das Genre des Survival-Horrors mithilfe des hageren Antagonisten grundlegend zu reformieren. Dass ›Slender‹ kurz, spielmechanisch überschaubar und kostenlos ist, tut der Intensität dabei keinen Abbruch.

Minimalismus des Grauens

An ›Slender‹ dieselben Maßstäbe anzulegen, die man an einen über Jahre entwickelten Indie-Titel oder gar an einen Vollpreistitel anlegen würde, wäre ungerecht: Eigentlich sollte die unheimliche Waldbegehung ursprünglich nur eine schnelle Fingerübung für den Kleinstentwickler Parsec Productions werden, um die Unity-Engine kennenzulernen. Dementsprechend karg gestaltet sich auch der Einstieg: Ich darf in einem schlichten Fenster gerade einmal die Auflösung und eine Qualitätsstufe für die Grafik festlegen, bevor ich dann unmittelbar nach einer Schwarzblende und der Titeleinblendung auch schon mitten im nächtlichen Wald stehe. Kein klassisches Menü, kein Intro, kein Tutorial – lediglich eine genauso simpel wie kurz gehaltene Texteinblendung »Collect all 8 pages« macht mich mit meiner einzigen Aufgabe vertraut: Dem Sammeln von acht bekritzelten Notizblockseiten, die über das Waldstück verteilt sind. Dabei durchforste ich das Gebiet in klassischer First-Person-Perspektive mittels WASD-Steuerung, lediglich mit einer ausschaltbaren Taschenlampe und der Fähigkeit kurzfristig zu sprinten ausgestattet.

Das Waldstück selbst ist rigide umzäunt und nicht allzu groß – dafür allerdings dicht mit Bäumen bestanden und mit einer Handvoll einprägsamer Landmarken durchsetzt, wie etwa einer Ansammlung von Gastanks. Diese sind zur Orientierung auch bitter nötig, denn weder gibt es ein HUD, das mich auf die Fährte der verschollenen Zettel stößt, noch eine Minimap oder irgendeine andere Orientierungshilfe, mit der ich mich zielgerichtet durch den düsteren Forst schleichen könnte. Glücklicherweise finden sich die Notizzettel in der Regel immer in der Nähe einer landschaftlichen Besonderheit, sodass ich zumindest einen Anhaltspunkt für meine Suche habe. Und so bringe ich dann meine Taschenlampe in Anschlag und breche für meine Suche in den düsteren Forst auf.

Allein im dunklen Wald?

Es ist still. Still und dunkel. Außer dem Zirpen einer Grille und meinen gedämpften Schritten auf dem Waldweg ist nichts zu hören. Meine Taschenlampe schneidet einen hellen Kegel in die undurchdringliche Dunkelheit zwischen den Bäumen. Ich verlasse den Weg und schlängele mich zwischen den Stämmen der Eichen hindurch. Irgendwo in der Nähe muss doch der alte Pickup stehen. Ich komme auf einer kleinen Lichtung an und der Strahl meiner Taschenlampe erfasst die Ladefläche des alten Wagens. Endlich. An der Rückseite heftet eine der gesuchten Notizen. »Don’t look or it takes you«, hat jemand mit einem schwarzen Stift darauf geschmiert. Ich sacke die Notiz ein und höre plötzlich das dumpfe Pochen meines Herzschlags. Gleichmäßig und bedrohlich begleitet mich dieser Ton von nun an.

Ich eile von der Lichtung zwischen die Bäume und suche den Weg. Einem unerklärlichen Instinkt folgend drehe ich mich um – und sehe ihn. Gut dreißig Meter entfernt steht er da. Seine langen Arme hängen schlaff neben dem dürren Körper, sein konturloses Gesicht liegt im Schatten. Er steht einfach da und er sieht mich. Auch ohne Augen sieht er mich. Ich knipse die Taschenlampe aus und sprinte los. Wahllos vorwärts in den dunklen Wald. Ich muss diese Zettel finden, vielleicht verschwindet er dann. Keuchend und komplett aus der Puste halte ich vor einer Mauer inne. Die Schatten tanzen zwischen den Bäumen. Ist er da? Oder spielt mir meine Fantasie einen Streich? Hastig reiße ich den nächsten Zettel ab und stolpere auch schon panisch weiter durch den Wald. Die Geräuschkulisse steigert sich. Zu meinem dumpfen Herzschlag gesellen sich nach und nach ein pulsierendes Dröhnen, ein schneller werdender bohrender Krach, ein hohes panisches Kreischen. Die Taschenlampe knipse ich nur noch äußerst selten an.

Orientierungslos hetze ich einfach kreuz und quer durch das Areal, in der Hoffnung die restlichen Seiten zu finden. Und ihm nicht mehr zu begegnen. Er kommt immer näher. Eben stand er plötzlich unmittelbar neben mir. Nur mit Mühe gelang es mir, den Blick rechtzeitig abzuwenden. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Umherirrens sehe ich die Steinstele. Ich knipse die Taschenlampe für einen Augenblick an, orientiere mich kurz und umrunde die Stele. Hier muss sie doch irgendwo sein, die letzte Notiz. Da erfasst ihn meine Taschenlampe. Er steht keinen Meter vor mir. Mein Herz setzt einen Augenblick aus. Unfähig mich im Bruchteil einer Sekunde abzuwenden, wird das Bildrauschen stärker und stärker. Das Bild wird weiß, ich schreie – es ist aus, er hat mich.

How to put the survival back in the horror

»Aber was zeichnet denn nun ein kleines, zwanzigminütiges Survival-Horror-Spiel ohne Story, ausgefeilte Spielmechanik, Handlungsmöglichkeiten oder herausragende Technik aus?« – eine Frage, die man sich vor dem Hintergrund eines opulenten Genre-Primus wie Resident Evil 5 durchaus zu Recht stellen kann. Die Antwort darauf ist im Prinzip so simpel wie facettenreich: die Atmosphäre. Wo sich die großen Namen des Genres immer mehr auf ausufernde Action mit unzähligen aufrüstbaren Waffen, haufenweise Munition und großen Gegnerhorden verlassen, spielt ›Slender‹ filigran auf der Klaviatur des Grauens. Nicht weil von Zeit zu Zeit ein Zombiehund durchs Fenster knallt, rast mein Puls, sondern weil ›Slender‹ gezielt menschliche Urängste und meine Fantasie anspricht.

In gewisser Weise ist der düstere Waldlauf von Parsec Productions eine komprimierte Anleitung für Gamedesigner, wie sie die Angst ums nackte Überleben wieder in ihre Horrorspiele integrieren können. Nämlich indem sie ihr Augenmerk der Kombination der drei Hauptaspekte von ›Slender‹ widmen: Hilflosigkeit, Dunkelheit und glänzendes Sound-Design. Die absolute Hilflosigkeit hat dabei maßgeblichen Anteil an meinem Bangen ums nackte Überleben. Ich habe keine Shotgun, keine Axt, kein MG und keine Granaten, sondern lediglich eine lausige Taschenlampe.

Wer oder was auch immer in diesem Wald lauert, ich werde mich bei einem Aufeinandertreffen nicht wehren, sondern lediglich fliehen können. Mein normales Gehtempo ist allerdings quälend langsam und meine Ausdauer für Sprints arg limitiert – meine Chancen stehen also selbst bei einer Flucht alles andere als gut. Zudem habe ich weder Kompass, noch Karte, noch irgendeine andere Orientierungshilfe zur Verfügung. Beim ersten panischen Losstürzen riskiere ich absolute Orientierungslosigkeit und zusätzlichen Kontrollverlust. Ich bin wehrlos, orientierungslos, hilflos – deswegen habe ich Angst vor dem, was da in der Dunkelheit lauern könnte.

Und die Dunkelheit ist überall. Während ich in Capcoms Afrikaausflug munter mit der MP im Anschlag durchs Sonnenlicht tanze, zwingt mich ›Slender‹ permanent in die Dunkelheit. Nutze ich zu Beginn noch häufiger die Taschenlampe, geht mir schnell auf, dass der Lichtkegel nicht nur dem Sehen, sondern auch dem Gesehenwerden zuträglich ist. Also knipse ich das Ding aus und stolpere durch das Dunkel des Waldes. Wogendes Gras, merkwürdige Bäume und der Slenderman sehen sich verdammt ähnlich. Und sowohl wogendes Gras, als auch merkwürdige Bäume sind überall. Selbst wenn der Slenderman mich mehrere Minuten nicht heimsucht, so sucht meine Fantasie mich in der Dunkelheit doch permanent heim und macht die Angst im dunklen Wald allgegenwärtig.

Durch die äußerst gelungene Soundkulisse wird dieses Gefühl noch verstärkt. Es gibt außer den Grillen, meinen Schritten und meinem Keuchen nach einem Sprint nur einen Teppich von übereinander liegenden Geräuschen, der mit jedem eingesammelten Zettel dichter wird. Höre ich zu Beginn nur ein beklemmendes Pochen, steigert sich dieses Gefühl mittels bedrohlich dröhnender und bohrender Töne zu Angst und gipfelt bei der Suche nach der letzten Notiz in einem Kreischen, das blanke Panik hervorruft und mich nur noch kopflos durch den Wald stürzen lässt.

Spätestens in diesen Momenten erinnert ›Slender‹ im positiven Sinne an die letzten Minuten eines ›Blair Witch Project‹ zum Mitspielen. Neunzig Prozent des Horrors finden dabei ausschließlich in meinen Gedanken statt, während ich planlos und panisch durch einen Wald stolpere, ohne zu wissen wohin. Nicht massenhaft eingesetzte Schockeffekte, sondern die perfide Kombination aus durchgehender nervlicher Anspannung durch die Allgegenwart einer unbekannten, kaum kontextualisierten Gefahr und dem Gefühl dieser absolut hilflos ausgeliefert zu sein, sorgen dafür, dass ich permanent ums Überleben bange.

Diese Angst wird durch die zahlreichen unbekannten Variablen in ›Slender‹ noch zusätzlich unterstrichen: Warum suche ich diese acht Notizen? Wer hat sie geschrieben? Überlebe ich möglicherweise, wenn ich sie alle finde? Warum bin ich in diesem Wald? Warum verfolgt mich der Slenderman? Was genau passiert eigentlich mit mir, wenn er mich erwischt? ›Slender‹ lebt noch stärker als andere Titel, wie z.B. ›Amnesia: The Dark Descent‹, davon, wenig zu erklären und belastet sich nicht unnötig mit Story, komplexer Spielmechanik oder überbordender technischer Finesse. Es greift einfach all die Grundzutaten des Survival-Horrors auf und komprimiert sie zu zwanzig Minuten purer, atmosphärisch dichter, blanker Angst ohne Schnörkel und actionlastigem Beiwerk.

| DANIEL APPEL

Titelangaben
Slender (PC/Mac)
Entwickler: Parsec Productions

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