Sachbuch | Ilan Pappe, Jamil Hilal (Hrsg.): Zu beiden Seiten der Mauer
1997 gründeten palästinensische und israelische Historiker und Sozialwissenschaftler die Arbeitsgruppe PALISAD (Palestinian and Israeli Academicians in Dialogue). Auslöser war das faktische Ende des Friedensprozesses nach dem Mord am israelischen Regierungschef Rabin. Die Wissenschaftler hatten eines erkannt: um langfristig zu Frieden und Verständigung zu kommen, muss zuerst eine realistische, entideologisierte Sicht der gemeinsamen Vergangenheit gefunden werden. Das Ergebnis haben Ilan Pappe und Jamil Hilal unter dem Titel Zu beiden Seiten der Mauer zusammengetragen. Von PETER BLASTENBREI
Zugleich muss auch die eingefahrene Vorstellung von einer gleichartigen Schuld beider Seiten am Palästina-Konflikt überwunden werden – was in der Regel ohnehin Schuldzuweisung an die Opfer, die Palästinenser, heißt. PALISAD geht also weit über alles hinaus, was die sogenannten Neuen Historiker in Israel zu leisten vermochten, die sich nie völlig vom dominanten zionistischen Geschichtsbild lösen konnten und daher auch nie die Parallelität und Interdependenz der israelisch-palästinensischen Geschichte erkannten.
Der Band beginnt mit einem Blick auf die wissenschaftlichen Grundpfeiler der zionistischen Ideologie. Nach Ehud Adiv haben sich jüdisch-israelische Historiker und Soziologen lange nur auf die Geschichte der Juden bezogen, nicht aber auf die nahöstliche Realität ihres Landes. Die frühen israelischen Anthropologen nahmen dagegen die im Land verbliebenen Palästinenser durchaus wahr, doch definierten sie sie als das schlechthin Andere außerhalb des historisch-politischen Kontextes. Die so erreichte Abgrenzung diente vor allem der ideologischen Integration eingewanderter arabischer Juden (Dan Rabinowtz).
Israelische Defizite, palästinensische Verwerfungen
Ilan Pappe zeigt die zionistische Konstruktion einer jüdischen Nation, die von Anfang ein als feindlich konstruiertes Gegenüber brauchte. Heute durchtränkt dieser Mythos die israelische Alltagskultur, und nur eine angst- und vorurteilsfreie Diskussion der eigenen Rolle könnte hier Auswege eröffnen. Oren Yiftachel wendet zur Analyse der jüdisch-israelischen Gesellschaft den Begriff Ethnokratie an, den er als Kontrolle einer Nation im multiethnischen Raum durch ideologische und kulturelle Mittel versteht. Als Siedlerstaat mit theokratischen Tendenzen, ohne definierte Grenzen und definiertes Staatsvolk ist Israel weit von den Demokratien westlicher Prägung entfernt.
Das evidente Demokratiedefizit Israels zeigte sich nicht zuletzt in der überragenden Rolle Jizchak Rabins im Friedensprozess um 1990. Seine ungewöhnliche Initiative brach die in Symbolpolitik erstarrten Fronten in Israel auf und ermöglichte kurzzeitig eine Neuorientierung auf wirklich relevante Ziele. Die neue Politik hatte allerdings nur sein persönliches Prestige als Basis und musste nach Rabins Tod schnell wieder verschwinden (Lev Grinberg). Eine zentrale Rolle in der israelischen Symbolpolitik kommt leider der öffentlichen Dauerinszenierung die NS-Judenvernichtung zu, allzu deutlich mit dem Ziel einer umfassenden Mobilisierung für staatliche Zwecke (Moshe Zuckermann).
Anomalien und Besonderheiten der palästinensischen Geschichte und Soziologie lassen sich nur aus dem Blickwinkel der politischen und sozialen Katastrophe von 1948/49 verstehen. Mitherausgeber Hilal gibt einen informativen Abriss der palästinensischen Nationalbewegung seit den 1920er Jahren. Issam Nassar vertieft dies mit der Konzentration auf das Nationalgefühl der Palästinenser im engeren Sinn, das sich erst mit den Ereignissen von 1948/49 endgültig ganz von der Bindung an die Einzelgemeinde lösen konnte. Besondere Beachtung verdient Rema Hammamis Beitrag, der ein auffälliges Manko des palästinensischen Selbstbildes aufspürt – die weitgehende Ausblendung von Frauen in der jüngeren palästinensischen Historiografie.
Achsenjahr 1948/49
Mitten in die Geschehnisse von 1948/49 führt Salim Tammaris Artikel zur gewaltsamen Entarabisierung der westlichen Vororte Jerusalems noch vor dem eigentlichen Kriegsausbruch. Er unterstreicht damit noch einmal auf eindrucksvolle Weise Ilan Pappes These von der zentralen Bedeutung der ethnischen Säuberung Palästinas für die zionistische Politik. In Fortsetzung dieser Politik versuchte die israelische Regierung zwischen 1949 und 1958 die palästinensischen Flüchtlinge buchstäblich zum »Verschwinden« zu bringen – durch Ansiedlung in weit entfernten arabischen Ländern wie Irak oder Libyen (Nur Masalha).
Emanzipation und Demokratie waren in der palästinensischen Nationalbewegung nach Musa Budeiri unlösbar miteinander verbunden, aber immer unterschiedlich gewichtet. Die Heimkehr der PLO nach Palästina und ihr bürokratischer Niedergang zur macht- und einflusslosen Exekutivbehörde von Israels Gnaden birgt die Chance einer durchgreifenden Demokratisierung unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft der Besetzten Gebiete in sich.
Historiker und Sozialwissenschaftler können nicht in die Zukunft schauen, wohl aber fundierte Vorschläge zu ihrer Gestaltung machen. Für eine echte und dauerhafte Lösung des Nahostkonflikts denkt Ilan Pappe nach eingehender Diskussion der bisherigen Phasen wieder an einen gemeinsamen binationalen Staat beider Kontrahenten. Uri Davis konkretisiert dies mit einem originellen Beitrag zu einer künftigen Befreiung des Begriffs Jüdisch vom nationalistischen Ballast.
Zu beiden Seiten der Mauer ist ein äußerst gewichtiger Beitrag zur ernsthaften Diskussion um den Nahostkonflikt. Wissenschaftstheoretisch und ideologiekritisch, aber auch historisch und politisch gehören die hier gesammelten Aufsätze fraglos zum Besten, was beide Völker heute zu bieten haben. Mitarbeiter so verschiedener Universitäten wie Tel Aviv, Haifa, des Negev, al-Quds, Bir Zeit, London, Surrey und Exeter arbeiteten hier derartig eng zusammen, wie es auch international selten vorkommt. Ein besonderes Lob verdient die fachlich sichere und gut lesbare Übersetzung.
Erstmals 2010 in London erschienen beweist der Band nicht zuletzt dadurch seine hohe Qualität, dass er auch nach dem Arabischen Frühling nichts von seiner Gültigkeit verloren hat. Gerade in Deutschland, wo aus historischen Gründen Legenden über den Palästina-Konflikt zählebiger sind als anderswo, kann man dem Buch eigentlich nur breiteste Beachtung wünschen.
| PETER BLASTENBREI
Titelangaben
Ilan Pappe, Jamil Hilal (Hrsg.): Zu beiden Seiten der Mauer. Auf der Suche nach einem gemeinsamen Bild der israelisch-palästinensischen Geschichte
(Across the Wall. Narratives of Israeli-Palestinian History, 2010)
Deutsch von Sigrid Langhäuser
Hamburg: Laika 2013. 443 Seiten. 29 Euro