/

Sie sind viele, sagt sie

»Wir sind viele« – so beginnt das Sachbuch ›Ungestillte Sehnsucht‹ von Millay Hyatt, das den Kinderwunsch ungewollt kinderloser Paare betrachtet. Es ist eine tendenziell politische Aussage, weil sich darin die Forderung nach mehr Aufmerksamkeit widerspiegelt. Dieses Schicksal sei nicht nur hart, es treffe auch mehr als man denkt. Von BASTIAN BUCHTALECK

Die biologische Uhr tickt: Wenn der Wunsch plötzlich zum Zwang wird

Ungestillte SehnsuchtDer Klappentext des Buchs verrät: »Mit 32 erfährt Millay Hyatt, dass sie keine Kinder bekommen kann. Der Wunsch aber ist intensiv. So intensiv, dass er zu einer Gewalt heranwächst, die sie und ihren Mann zu Ärzten, Heilpraktikern und in Adoptionsseminare führt.« Eindrücklich beschreibt Hyatt ihren Leidensweg und wie ihr Leben zwischen Hoffnung und Resignation, Akzeptanz und Wut schwankt. Man merkt, Hyatt will sich auf das Thema stürzen, es durchdringen, beherrschen – und auf diese Weise dem unerbittlichen Schicksal beikommen.

»Das Alphabet ist das Land, wo der Geist siedelt und der heilige Name blüht.«

Dabei umkreist das Buch das Thema wie ein hungriges Tier eine unerreichbare Beute. Durch dieses Kreisen fehlen dem Buch ein erkennbarer, logischer Aufbau und vor allem eine abstrakte, analytische Ebene. Und so ist es weniger die Autorin, die das Thema des ungestillten Kinderwunsches beherrscht, als dass sie davon beherrscht wird.

Kinderwunsch, ja! Aber warum genau?

In dieser Umkehrung zeigen sich vor allem die Macht und Heftigkeit, mit denen der Kinderwunsch über die Betroffenen kommt. Niemand wird sich erdreisten, diesen Wunsch im Menschen zu bestreiten. Für diejenigen, denen dieser Kinderwunsch auf natürliche Weise verwehrt bleibt, entweder durch Unfruchtbarkeit, die fehlende Partnerschaft, die sexuelle Orientierung oder andere Faktoren, stellt sich die Frage, wie man mit dieser Situation umgehen solle und auch, wo der Ursprung des Wunsches liege. Warum, aus welchem Grund, habe ich diesen Kinderwunsch? Das Buch geht zwar auf diese Fragen ein, aber viel zu selten und leider auch recht unsystematisch.

In einem Buch mit etwas mehr als 200 Seiten muss man die Antworten wie die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen suchen. Die gefundenen Gründe für den Kinderwunsch sind:

  1. der Wunsch nach Familie
  2. der Wunsch nach dem »richtigen« Partner bzw. Erfüllung der Partnerschaft
  3. das gesellschaftlich geprägte Ideal Kleinfamilie
  4. Selbstheilung, indem man Wünsche und Sehnsüchte auf das Kind übertragen kann
  5. Dinge besser machen, die in der eigenen Kindheit nicht gut waren
  6. bedingungslose Liebe erhalten, für die man nichts tun muss
  7. das Bedürfnis, sich um jemanden zu sorgen und jemanden zu pflegen
  8. der Wunsch, gebraucht zu werden
  9. sich nicht dem Gefühl von Hilflosigkeit und Kontrollverlust ergeben

Der Kinderwunsch kann sich sogar bis ins Irrationale steigern. Denn er kann auch dann stark verspürt werden, wenn sich die Person letztlich gar nicht gerne um Kinder kümmert. »Mit anderen Worten: Ein Kinderwunsch kann manchmal stärker sein, als der Wunsch, im Alltag Mutter oder Vater zu sein.«

Erlebnisbericht als vorherrschender Erzählstil

Die Liste der Kinderwünsche ist zwar auf den ersten Blick inhaltlich erschöpfend, aber dennoch nicht sonderlich umfangreich – zumal die einzelnen Wünsche an ihrer jeweiligen Fundstelle zu wenig in übergeordnete Kontexte eingebunden werden. In der Folge ergeben sich deutliche Längen und Wiederholungen, eine hilfreiche Struktur fehlt.

Dies lässt sich darauf zurückführen, dass das Buch eine Ansammlung von Erfahrungsberichten darstellt. Von Hyatts eigenen Erfahrungen, aber auch von Bekannten und anderen Menschen mit ungewollt-ungestilltem Kinderwunsch. Die literarische Form des Berichts führt zu emotionaler Nähe, zumal der umgangssprachliche Stil direkt an das (Mit-)Gefühl appelliert – beides ist dem Thema durchaus angemessen.

Gleichzeitig ist der Bericht in seiner literarischen Form subjektiv geprägt und auf das individuelle Schicksal ausgerichtet. Hier geht die analytische Ebene verloren. Das Gefühl wird angesprochen, aber der Verstand bleibt außen vor.

Schmerzhafter Abschied vom Kinderwunsch

Hyatt beschreibt, dass sie nach neun Jahren erfolglosem Kinderwunsch und den Wandlungen, die sie hat durchmachen müssen – drohende Unfruchtbarkeit – Unfruchtbarkeit – Reproduktionsmedizin – Suche nach Leihmutter – Adoptionsverfahren in Deutschland – Adoptionsverfahren in Wunschland – Adoptionsverfahren in USA – Adoptionsüberlegungen rund um den Globus – nun endlich in sich den eigentlichen Kinderwunsch identifiziert habe: »Was ich mit mittlerweile wünsche und was schon immer der Kern meines Wunsches gewesen ist, ist ein Kind, das mich wirklich braucht und für das ich und Jacob die beste Option sind.«

In ihrem Fall hat das viel mit Loslassen zu tun, denn erst musste sie den Wunsch nach leiblichen Kindern loslassen, dann die Hoffnung auf künstliche Befruchtung und schließlich den Wunsch nach einer Leihmutter. Als sich auch die Adoptionsverfahren als schwierig gestalten, wird der ohnehin schon reduzierte Wunsch ein Kind in seiner Entwicklung zu begleiten und ihm etwas mitzugeben, weiter reduziert.

Hyatts Schlussfolgerung, dass dieser mehrfach gewandelte Wunsch schon zu Beginn bestanden haben sollte, wirkt wie ein psychologischer Verteidigungsmechanismus: »Ich wollte ohnehin nie wirklich, was ich nicht bekommen kann.« Die schmerzhafte Anpassungsleistung wird viel zu wenig betont, nicht hinterfragt, eine höhere, übergeordnete Reflexionsebene nicht erreicht.

Insgesamt ist ›Ungestillte Sehnsucht. Wenn der Kinderwunsch uns umtreibt‹ eine Ansammlung von Erlebnisberichten und leider nicht mehr. Die geschilderten Gefühle von Ohnmacht, Wut, Verzweiflung regen zum Mit-Fühlen an. Aber es fehlt eine Systematik, die das Buch über das bloße Mitfühlen hinaushebt – zum Mitdenken.

Durch die Ansammlung von Erlebnisberichten kommt der Anspruch, viele zu sein, zum Ausdruck. Ob dies der Realität entspricht oder nicht, ist dabei nebensächlich. Schon das Gefühl, nicht alleine zu sein, kann Schmerzen lindern und das macht das Buch lesenswert – allerdings überwiegend für direkt Betroffene.

| BASTIAN BUCHTALECK

Titelangaben
Millay Hyatt: Ungestillte Sehnsucht
Wenn der Kinderwunsch uns umtreibt
Berlin: Ch.Links Verlag 2012
224 Seiten, 18 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Positive Effekte – Fehlanzeige

Nächster Artikel

Spuren menschlicher Interaktion

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Die Dunkelheit unterm Zucker-Candy – Teil I

Thema | Germany’s Next Topmodel JAN FISCHER hat die erste Folge der neuen Staffel Germany’s Next Topmodel mal gründlich auseinandergenommen. In seinem großen, dreiteiligen Essay findet er unter der bunten Candy-Verpackung der Sendung eine saubere Erzählung von der Dunkelheit am Rande der Stadt.

Die Systemfrage?

Gesellschaft | Raul Zelik, Elmar Altvater, Vermessung der Utopie Wer hätte geglaubt, dass den unzähligen kapitalismuskritischen Publikationen inhaltlich Neues hinzuzufügen wäre. Auf vielen Seiten in einem unauffällig daherkommenden kleinformatigen Bändchen sprechen Raul Zelik und Elmar Altvater erstaunlich viele originelle Aspekte an. Von WOLF SENFF

Was es heißt, ein Einzelner zu sein

Gesellschaft | Rüdiger Safranski: Einzeln sein / Karl Heinz Bohrer: Was alles so vorkommt

»Jeder ist ein Einzelner. Aber nicht jeder ist damit einverstanden und bereit, etwas daraus zu machen.« Diese Sätze stehen am Anfang seiner philosophischen Überlegungen über den Menschen in Rüdiger Safranskis neuem Buch ›Einzeln sein – Eine philosophische Herausforderung‹. In den sich anschließenden sechzehn Kapiteln entwickelt der Autor keine elaborierte »Theorie des Ichs« und er verfasst auch kein Vademecum für Selbstoptimierer und Selbstverwirklicher, sondern er sucht, von der Renaissance bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts, nach Bestimmungen dessen, was es heißen kann, ein Einzelner zu sein. Gezeichnet werden die Porträts von Menschen, die sich entschieden haben, autonome Individuen zu sein, in ihrem Leben und in ihrem Denken, in einer Gemeinschaft, aber oft genug auch gegen sie. Von DIETER KALTWASSER

Selbstliebe wird überbewertet

Gesellschaft| Wilhelm Schmid: Selbstfreundschaft Wie kann der Mensch selbstbewusst auftreten und zu sich stehen, ohne in Narzissmus zu verfallen? Zehn Schritte zur Selbstfreundschaft und auf diese Weise »das schönste Leben zu führen«. Von MONA KAMPE