Film | TV: Tatort Die Wahrheit stirbt zuerst (MDR), 16. Juni:
Meine Güte – kann Katja Riemann toll eklige Weiber spielen! Und wie charmant Andreas Keppler ihre entzückende Visage beschreibt! Boshaft? Nicht doch! Auch an Eva Saalfeld teilt er aus, »ihr«, sagt er, »hängt die Müdigkeit wie Würmer aus den Augen!« Das ist nicht fein – nein, das gehört sich nicht. Wir lernen, wie Keppler mit den Mädels umspringt, das ist die halbe Miete. Von WOLF SENFF
An einem Waldsee liegt im Morgengrauen ein totes Mädchen in einem Boot. Es ist Winter. Schöne stille Aufnahmen. Die Mutter Paula Albrecht (Anne Ratte-Polle) ist verzweifelt und verdächtigt ihren Mann Peter (Pasquale Aleardi), von dem sie seit einiger Zeit getrennt lebt und bei dem sich Amelie während der letzten Tage aufhielt. Paula nimmt an, er konnte nicht ertragen, dass sie mit Amelie und dem neuen Lebensgefährten Johannes Bittner (Bernhard Schir) in Kürze nach Kairo zieht. Eine verwickelte Ausgangslage, und ist eh klar, dass alles ganz anders kommt, muss sein.
Nicht nur in Finnland spielt die Musik zum Tango auf
Linda Groner (Katja Riemann), eine Ex vom BKA, macht Andreas Keppler (Martin Wuttke) zu schaffen, Altlasten und so, und man kann durchaus der Meinung sein, das Beziehungsklimbim nähme überhand. Das mag so sein, aber es kommt dann, siehe oben, doch wieder lustig. Nicht für die Frauen, nein, auch nicht für Keppler, sondern für uns Fernsehzuschauer ist’s amüsant. Und in Zeiten, da der NDR Haudraufs mit intellektuell unterstem Drehmoment in den TATORT einschleust, freut man sich über jeden Versuch subtilen Humors (Buch: Miguel Alexandre, André Georgi und Harald Göckeritz).
So schlingert dieser TATORT dahin, hart am Abgrund, dass man fürchtet, er kippt, und dann sieht man, es reicht doch wieder. Dazu werden Tango-Takte gespielt. Das ist mutig, wir sind überrascht, das haben wir gern. Andreas Keppler erkenne ich anfangs gar nicht wieder, so kooperativ tritt er auf, so grundgereinigt, so entgiftet, so völlig unangefressen. Letztlich, wie schön, hält er das nicht durch.
… aber sind Petitessen
Massiv Alarm gibt’s im Krankenhaus, als der unaufhaltsam suizidaffine Vater eingeliefert wird – diese Szene hat Arztserienformat. Das Bluttransfusionsdrama nervt so sehr, dass man überzeugt ist, Asklepios habe den Film gesponsort. Und Eva Saalfeld, für mein Empfinden – sie guckt einfach zu viel, sie steht dann bloß schweigend im Bild rum und guckt, bis man das Gefühl hat, sie wär‘ im falschen Film. Und lässt auch noch hälftig ihre Lider klappen, ach wie kokett – in Panitzsch ist Disco angesagt? Hätte der Mann hinter der Kamera da nicht einlenken können?
Aber sind Petitessen. Dieser TATORT passt unbedingt. Nein, kein Zweifel. Er schlingert, wo er schlingern soll, sein Schlingern reißt uns mit (Regie: Miguel Alexandre), und er liefert gehörige Spannung. Er ist weder betulich noch brav, mit den Rüstungsprodukten und dem Ticket für den Flug nach Kairo gibt er sich nen Hauch Große Welt. Aufrichtig dankeschön, auch für das überzeugende Ensemble. Der Titel? Da wird sich wohl, nichts für ungut, eine Praktikantin mit welchen Titeln und Filmen vertan haben, das passiert schon mal.
Widerborstig wär mal schön
Noch zur Figur des Kommissars. Wer den schottischen Autor Ian Rankin kennt und schätzt, wird sich in dieser Leipziger Folge an dessen John Rebus erinnert fühlen, der ähnlich dickköpfig wie Andreas Keppler und gewissenhaft seiner Arbeit nachgeht und sich weder durch Vorgesetzte noch durch Behördenbürokraten aus der Ruhe bringen lässt. Eine solche Figur fehlt bislang im TATORT. Kommissar Guido Brunetti ist in Donna Leons Romanen eine solche widerständige Figur. Er wurde jedoch in den Donna-Leon-Verfilmungen, die ich sah, erbarmungslos verhunzt und, es ist unsäglich peinlich, nahezu ins Gegenteil gewendet. Man muss sich dieses niveaulos aufbereitete Zeug nicht antun.
Das schottische Fernsehen produzierte von 2000 bis 2007 nach Ian Rankins Romanen die Serie Rebus mit insgesamt vierzehn Folgen, und Edinburgh ist nicht sehr verschieden von Leipzig. Das ließe sich fürs hiesige TV synchronisieren, muss ja nicht immer Dänemark sein oder der omnipräsente Big Brother überm Atlantik, außerdem: Auch die Synchronsprecher wollen beschäftigt sein.
Wie sollen sie nur trauern, ach
Noch. Ich wundere mich über die Art, wie einige Figuren trauern, wir hatten das neulich schon mal. Ich nehm‘ denen die Trauer nicht ab. Der Vater sieht so derbe zerknirscht in die Welt, dass ich mir das Lachen verkneife. Warum fällt es ihnen schwer, Trauer zu spielen? Man müsste sich die Zeit nehmen, darüber nachzudenken. Spontan würde ich antworten, sie können es nicht, weil sie nicht wissen, was Trauer ist.
Das gilt ebenso für die schreiende Mutter anfangs. Brüllt der Mensch so bestialisch, wenn er traurig ist? Nachher legt sie ihre Stirn in nie da gewesene Falten. Krass. Nein, nicht, keine Falten, sondern die Haut oberhalb der Nasenwurzel kräuselt sich höchst merkwürdig, achten Sie mal drauf. Wie lernt jemand das? Die Bilder wären nachträglich bearbeitet? Nein, ich glaub‘ das nicht, nie im Leben ist das Trauer. Aber lassen Sie sich diesen TATORT, wie auch immer sein Titel richtig lauten mag, bitte durch diese schrägen Gedanken auf keinen Fall vermiesen, Sie sollten ihn sich nicht entgehen lassen.
| WOLF SENFF
Titelangaben
TATORT: Die Wahrheit stirbt zuerst (MDR)
Regie: Miguel Alexandre
Ermittler: Martin Wuttke, Simone Thomalla
So., 16. 6. 13, ARD, 20:15 Uhr