Jugendbuch | Karen-Susan Fessel: Liebe macht Anders
Sie sind fünfzehn. Der Schulunterricht hat wenig Bedeutung für sie, was das Leben sonst verspricht, viel mehr. Sie wollen ihre Kräfte messen, sie posieren, schlüpfen in Rollen und sind überzeugt, die Welt zum ersten Mal zu entdecken. Sie glauben an ihre eigene Macht und übersehen, dass diese nur die Macht des Gewohnten ist. Wenn etwas Ungewöhnliches auftaucht, scheitern sie an Kinderängsten. Dann können sie gefährlich werden. Karen-Susan Fessel hat in Liebe macht Anders ein raffiniertes Psychogramm von Teenagern vorgelegt, das zugleich ein ungutes Licht auf die Gesellschaft wirft, deren Kinder sie sind.
Anders ist von der Brücke gefallen. Bei einer Party ist er aufs Geländer gestiegen und plötzlich nach hinten gekippt. Das sagen jedenfalls die, die es gesehen. Viele sind das sowieso nicht, eine Handvoll Jungen aus seiner Klasse, Sanne, die sich ihn verliebt hat, und Signe, die ältere Schwester von Anders. Es war ein Unfall, so heißt es einhellig in den Aussagen, die sie bei der Polizei machen. Signe allerdings besteht darauf, dass der Sturz gezielt ausgelöst worden ist. Ihre Eltern erstatten Anzeige gegen Unbekannt. Was ist bei der Party geschehen und vor allem, warum?
Ein Thriller?
»Thriller« steht pink auf Grau auf dem Cover dieses Buchs, einem von zwei Titeln der neuen Reihe Herzblut aus dem Kosmos-Verlag. Das, was einen landläufigen Thriller ausmacht, finden Leserinnen und Leser sicher nicht in dieser knappen und zugleich vielschichtigen Geschichte. Was sie finden, ist ein Blick in eine Welt, die normal scheint und dabei so eng ist, dass man fast darin erstickt. Die vertraute Alltagswelt nämlich. Eine Gruppe Teenager, Jungen und Mädchen, mit altersbedingten Problemen und Schwierigkeiten mit ihren Familien. Neid, Konkurrenzkämpfe in der Schule, strenge Eltern, lässige Eltern, abwesende Eltern, Eltern mit Suchtproblemen. Verlassenheitsgefühle, Eifersüchteleien, lästige jüngere Geschwister. Das Aussehen wird wichtig und wer zu wem gehört oder gehören will. Im Mittelpunkt steht die eigene Körperlichkeit, das jeweilige Gegengeschlecht wird aufmerksam beobachtet, Sex ist unausgesprochen und ausgesprochen das große Thema. Es wird sortiert, in Gruppen, Grüppchen, nach Paaren. Gegengeschlechtlich, versteht sich. Fessel genügen Skizzen, um diese Welt springlebendig werden zu lassen. Wen immer sie auftreten läßt, hat zudem einen eigenen Ton, ihre Figuren sind unverwechselbar.
Eines Tages taucht ein Neuer in der Klasse auf. Auch er muss einsortiert werden, aber er entzieht sich. Er benimmt sich ungewohnt, anders. Er bringt den ‚thrill’, das, was die Gefühle zum Überkochen bringt. Ein Thriller ist die Geschichte deswegen nicht, wohl aber ein psychologischer Krimi.
Die Avantgarde des kategorischen Miteinanders
Kinder – und Jugendbücher von Karen-Susan Fessel sind immer für Überraschungen gut. Gleich, welche Themen in dieser Sparte gerade als wegweisend gelten, sie schreibt sich umgehend in die Avantgarde. Gleich, ob es um das lange Sterben einer Mutter, die Erkenntnis des Lesbischseins oder um ein kleines Mädchen mit einer verwachsenen Gesichtshälfte geht, Fessel legt den Finger immer auf die besonders tiefen Wunden. Ihr Anliegen ist grundsätzlich Fairness und unumschränkte Anerkennung des Anderen als gleichberechtigt. So auch in dieser Geschichte. Während Bücher über lesbische und schwule Teenager endlich, wenn auch noch viel zu gemächlich, in die Bücherregale nicht nur schwuler und lesbischer, sondern auch heterosexueller Jugendlicher wandern, ist Fessel schon wieder auf einem neuen Gebiet. Ihre Hauptfigur, Anders, ist wiederum anders und trifft eben deswegen mitten ins Herz der herrschenden Vorstellungen davon, was die Geschlechter ausmacht. Fessel illustriert das mit ihren Figuren, den Klassenkameradinnen und Klassenkameraden von Anders.
Wir lesen ihre Aussagen bei der Polizei, hören ihre Gedanken in der Vorgeschichte, hören von ihnen, wenn die Erzählstimme einsetzt. Fessel ist fair, die Frage, wer woran schuld ist und in welchem Maß, müssen die Leserinnen selbst beantworten. Der Blick der Autorin ist unbestechlich und ihre Forderung unerbittlich. Schon von daher ist die Geschichte von Anders eine erschreckende Geschichte.
Abgesehen vom merkwürdigen Titel ein rundum beeindruckender Jugendroman, hochmodern, prägnant formuliert und so überzeugend erzählt, dass man ihn nur schwer vergessen kann.
Titelangaben
Karen-Susan Fessel: Liebe macht Anders
Stuttgart: Kosmos (Franckh-Kosmos) 2013
170 Seiten. 9,99 Euro
Jugendbuch ab 14
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Über die Autorin