Tobias O. Meissner (Text), Reinhard Kleist (Zeichnungen): Berlinoir
Der Carlsen Verlag hat die Vampir-Trilogie von Reinhard Kleist und Tobias O. Meissner, deren erster Band vor 10 Jahren erschienen ist, in einer von den Künstlern überarbeiteten Gesamtausgabe aufgelegt. BORIS KUNZ wunderte sich zuerst, ob das etwas mit der Twilight-Welle zu tun haben könnte? Wohl kaum, denn statt eine blutarme Liebesschnulze abzuliefern, setzt sich Berlinoir mit den politischen Dimensionen des Vampirmythos auseinander.
Berlin heißt in diesem Paralleluniversum Berlinoir und ist die weltweit einzige Großstadt, in der es den Vampiren gelungen ist, an die Regierung zu kommen und die Machtverhältnisse umzudrehen. Waren es früher die Vampire, die ein Leben im Verborgenen führen mussten, weil sie von den Menschen gefürchtet, verteufelt und gejagt wurden, so trifft das heute auf jene menschlichen Widerständler zu, die sich nicht länger gefallen lassen wollen, dass die Menschen von der Vamiprregierung ausgebeutet und zur Blutabnahme gehalten werden. Die Vampire unter ihrem altaristokratischen Anführer Szerbenmundt residieren in modernen Wolkenkratzern und pflastern die Stadt mit Propagandaplakaten , die das »Blutspenden« für die Oberschicht als Akt der sozialen Verantwortung verkaufen. Das Proletariat muss auf der Schulter der Arbeitsuniform die jeweilige Blutgruppe ausweisen, und lässt sich in industrialisierten Betrieben, die nicht von ungefähr an Konzentrationslager erinnern, maschinell Blut abnehmen. Die Straßen werden von großen Zeltplanen überspannt um die Sonne fern zu halten, aber dafür sind die Renten sicher, die Kriminalitätsrate bis zur Bedeutungslosigkeit gesunken, die Verschuldung der kommunalen Kassen getilgt und es gibt Theater und Opernhäuser für jedermann.
Fledermäuse über Metropolis
Zeichner Reinhard Kleist ist einer breiteren Leserschaft im Augenblick eher durch aufwändige, schwarz-weiß gehaltene Comicbiografien wie Castro oder Der Boxer bekannt, hat sich aber in den frühen Tagen seiner Karriere viel mit Horror beschäftigt und unter anderem auch einige Geschichten von Lovecraft adaptiert. Autor Tobias O. Messner schreibt sonst jene beliebten phantastischen Romane, die immer auch gleich in ganzen Reihen daherkommen, und die ihm für seinen bislang einzigen Ausflug in die Welt der Comics das Rüstzeug an die Hand gegeben haben dürften, komplexe Parallelwelten zu erschaffen.
Meissner hat hier immerhin schon viele Jahre vor True Blood das Szenario einer Gesellschaft entworfen, in dem die Vampire aus ihren Särgen gestiegen und in die Öffentlichkeit getreten sind. Allerdings wollen sich die Blutsauger hier nicht in der Gesellschaft der Menschen integrieren, sondern diese beherrschen. Berlinoir gibt der Blutsaugerei jene ausbeuterischen Qualitäten zurück, die sie zu Zeiten von bleichen Aristokraten wie Dracula einmal besessen hat, und fährt dafür die Erotik deutlich zurück. Es ist eine politische Fabel, und im Vordergrund stehen keine jungen Frauen, die sich nicht entscheiden können, ob sie sich von den sexy Vampiren angezogen oder abgestoßen fühlen sollen, sondern Widerstandskämpfer, die mit Volksaufständen und Attentaten gegen eine Politik agitieren, die eine ganze Stadtbevölkerung zu Nutzvieh degradiert.
Geschickt werden in diesem Comic die Ikonographie des Nationalsozialismus, der kommunistischen Arbeiterbewegung, oder der Deutsch-Deutschen Geschichte mit dem Vampirmythos und ein paar Gothic-Einflüssen verknüpft und zu neuen Bedeutungsebenen verwoben. Berlinoirs neuer regierender „Bürdenmeister“, der Vampir Mardocles, läuft nach einem misslungenen Anschlag der Rebellen mit halb bis auf den Totenschädel verbranntem Gesicht herum wie das Phantom der Oper oder ein Vorläufer von Christopher Nolans Version von Two Face, und seine Konkurrentin, die durchgeknallte Generälin Radra Cadressis lässt im dritten Band eine Mauer zwischen Nord- und Südberlin errichten. Spannend beschreibt Meissner, wie sowohl die Vampire als auch die Widerstandskämpfer sich die christliche Widerauferstehungssymbolik zu eigen machen, oder wie die Botschafter der Bundesrepublik gegenüber den Regierenden von Berlinoir zögern, die leidige Frage nach den Menschenrechten anzusprechen. Kleist bedient sich bei Metropolis und Nosferatu, bei Otto Dix und Fritz Lang, und daraus entsteht ein ganz eigener, in sich stimmiger, sehr politischer und sehr deutscher Vampirkosmos, in dem Stadtteilnamen wie Marzahn und Tiergarten nicht deplatziert wirken.
»Wir haben Sommer. Die Sonne hat ihren flüchtigen Moment des Ruhms und das Blut der Menschen schmeckt nach Schweiß«
Das Setting ist faszinierend und bis auf ein paar kleine Leerstellen gut ausgearbeitet – die Frage, warum ausgerechnet in Berlin die Vampire an die Macht gekommen sind, und wie es sich dagegen im Rest der Welt verhält, wird beispielsweise erst spät und auch nur sehr lückenhaft beantwortet. Schade ist auch, dass die Handlung selbst sich an Originalität und Spannung leider nicht ganz mit dem Setting der Geschichte messen kann. Der erste Band, Scherbenmund, erzählt die Geschichte des Widerstandskämpfers Niall, der sich in eine klassische Zwickmühle manövriert hat: Er ist einen Bund mit der schönen Vampirin Hellen eingegangen, Szerbenmundts Tochter, die aus eigenem Interesse einige ihrer politischen Feinde an den Widerstand verrät. Natürlich knistert es zwischen Niall und Helen auch erotisch, und so steht Niall bald zwischen den Fronten und muss sich zwischen seiner geliebten Vampirin und seinen Kameraden entscheiden, die ihm seine gefährliche Liaison natürlich sehr übel nehmen. Um in die Welt von Berlinoir einzutauchen, ist dieser Handlungsfaden schon okay, wirklich Überraschendes allerdings geschieht nicht.
Das ändert sich im zweiten Band, Mord!, der einen eher unerwarteten Perspektivwechsel vornimmt: Während Niall als Figur in den Hintergrund gerät, beschreibt der Band die Versuche des neuen regierenden Bürdenmeisters Mardocles, einer brutalen Mordserie Einhalt zu gebieten. Ein geheimnisvoller Serienkiller treibt sein Unwesen in der Stadt, und niemand weiß, ob es sich hier um einen Menschen, einen Vampir oder gar einen Werwolf handelt. Mardocles weiß, dass es ihm gelingen könnte, das Vertrauen der Menschen in die Vampirobrigkeit wieder herzustellen, wenn er den Mörder erwischt, ehe die Rebellen ihm zuvor kommen. In diesem Mittelteil, in dem die Trennlinien zwischen Gut und Böse am dünnsten gezogen sind, haben die Figuren ihre schillerndsten Momente – und die Geschichte hat seine spannendsten. (Und keine Sorge, die Story läuft nicht auf eine weitere Schlacht von Vampiren gegen Werwölfe hinaus!)
Der Abschlussband Narbenstadt baut dann die faschistische Generälin Cadressis als neuen Superbösewicht auf um alles auf einen fulminanten Showdown zwischen ihr und dem in die Handlung zurückgekehrten Niall zulaufen zu lassen. Es ist hier wieder etwas schade, wenn am Ende einer komplexen Geschichte ein Zweikampf zwischen Held und Schurke als Lösung eines gordischen Knotens angeboten wird.
Dank der Zeichnungen von Reinhard Kleist kann man das aber gut verdauen. Kleist fährt gerade am Ende noch einmal alles auf, was diesen Comic auch zu einem optischen Genuss gemacht hat: Die düsteren Stadtansichten von Berlinoir, die Blicke über die Skylines und Dächer und hinunter in die Gossen und Kloaken, der gekonnte, stimmungsvolle Einsatz von Farbe. Die Zeichnungen selbst wirken verglichen mit Kleists späteren Arbeiten in der Figurengestaltung stellenweise noch etwas ungelenk, und es fällt Kleist nicht unbedingt leicht, aus der Vampirin Hellen wirklich eine Figur von großer erotischer Anziehung zu machen, doch dafür überzeugt gerade die atmosphärische Farbgestaltung des Albums auf der ganzen Linie.
Wer Horrorgeschichten der subtileren Art mag, und gerne einmal eine Vampirgeschichte mit mehr Hirn als Schmalz lesen möchte, der kann bei diesem schön gestalteten Hardcover-Band auf jeden Fall zugreifen.
Titelangaben
Tobias O. Meissner (Text), Reinhard Kleist (Zeichnungen): Berlinoir (Gesamtausgabe)
Hamburg: Carlsen Verlag 2013
150 Seiten, 24,90 €
Reinschauen
Berlinoir bei Carlsen
Homepage von Reinhard Kleist
Informationen zu Tobias O. Meissner (I)
Informationen zu Tobias O. Meissner