Bleibendes

Kinderbuch | Regina Kehn: Das literarische Kaleidoskop

Mit ihrem literarischen Kaleidoskop setzt Regina Kehn einen Kontrapunkt zu der oft kurzlebigen Literatur unserer Tage. Ein Buch zum Staunen, das nicht nur die Jahreswende überdauern wird, freut sich ANDREA WANNER.

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Regina Kehn, Jahrgang 1962, hat als Illustratorin von Kinder- und Jugendliteratur längst einen Namen. Sie hat Reihen wie 4 ½ Freunde von Joachim Friedrich oder Charlie Bone von Jenny Nimmo bebildert, von ihr stammen die Illustrationen zu Otfried Preußlers Herr Klngsor konnte ein bisschen zaubern und 1993 wurde sie für ihre Bilder zu Michael Endes Der lange Weg nach Santa Cruz für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Was sie jetzt macht, verblüfft.

Von den Brüdern Grimm bis Kunert

Kehn stöbert in der Literatur, vorwiegend der deutschsprachigen, nur mit Daniil Charms hat sich ein russischer Autor, der gleich mit drei Gedichten vertreten ist, dazwischen geschlichen. Alle Autorinnen und Autoren von Rose Ausländer bis Paul Zech stellt sie im Anhang mit einer kurzen Biografie und einem gezeichneten Porträt vor. Bis auf das kurze Märchen Der goldene Schlüssel der Brüder Grimm und zwei Fabeln, von Kafka und Charms, hat Kehn Lyrik ausgewählt und sie interpretiert. Wobei ihre Interpretation kein Suchen nach Stilmitteln, Reimschemata und Metrik ist, sondern eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit den Texten, die sie von Hand abschreibt und – natürlich – illustriert. Schrift und Bild verschmelzen dabei zu einem eignen kleinen Kunstwerk, das die Stimmung und den Kern der Text aufs Treffendste wiedergeben.

Aus der Perspektive eines Unkrauts

In monochromen Brauntönen, das Grün des kleinen Krauts ins Bräunliche verwischt und mit starken, schwarzen Konturen skizziert sie Ringelmnatz’ Sauerampfer am Bahndamm auf braunem Pappkarton. »Arm Kräutchen« stimmt man sofort zu, wenn man aus dem eingeschränkten Blickwinkel der Pflanze eben immer nur Züge sieht, quasi licht- und sonnenlos auf die Freiheit eines Meerblicks mit Dampfer verzichten muss. Das Gedicht ist aus Druckbuchstaben gestempelt, unverrückbar aufs Papier gepresst, ohne Chance auf Entkommen, ohne Spielräume.

Morgensterns Schlittschuh laufender Seufzer dagegen ist in einer Schreibschrift aufs Papier gebannt, die Bogen und Schlaufen erinnern an die Wege der Schlittschuhe auf dem Eis. Wie sieht ein Seufzer aus? Wenn man das Kehn’sche Wesen gesehen hat, weiß man es. Ein hingetupfter Klecks, verwischt, konturenlos, flüchtig und doch zutiefst menschlich mit hängenden Schultern (die er gar nicht hat). Ein kurzes Glück auf dem Eis, ein nächtliches Dahingleiten, ein Traum von Liebe und Freude, der den Seufzer für einen Moment über sich hinauswachsen lässt. Und dann der fatale Fehler: der Gedanke an ein Mädchen und das dazugehörige Gefühl. Ein Erglühen. Für Kehn eine kleine explodierende Sonne mitten in diesem schwarzen Etwas. Da etwa, wo das Herz sein könnte. Ein bisschen Farbe, Orange. Und die Folgen: das schmelzende Eis und das Ende des Seufzers, ein Loch im Eis in der letzten Szene.

Sparsam dosiert Kehn Farbe. Nie drängen sich ihre Illustrationen in den Vordergrund, immer bleibt den Texten die Luft zum Atmen, der Raum, um zu wirken und Räume zu lassen für eigene Gedanken.

Daniil Charms Fuchs und Hase gestaltet sie als Bildergeschichte, das Grimmsche Märchen bekommt einen neuen, winterliches Zauber und Kafkas Kleine Fabel ist in ihrer Ausweglosigkeit mit einem Labyrinth, durch das Katze und Maus irren, trefflich umgesetzt.

Manche Gedichte haben nur wenige Worte wie Rose Ausländers Nie., in dem das lyrische Ich wehmütig feststellt, nie mit den drei Lauten einer Drossel so umgehen zu können, wie diese. Auch Kehn braucht dafür nur wenige Striche. Ein kleiner Vogel auf einem Pfahl, den Kopf nach oben gereckt, den Schnabel weit geöffnet. Darüber in der Luft schweben drei Töne in Form von Punkten, die jeweils etwas größer als der vorhergegangen sind: ein blauer, ein gelber und ein roter.

»Hingabe, Sorgfalt und Phantasie« werden der Illustratorin für dieses kleine Meisterwerk attestiert. Mehr muss man dazu nicht sagen.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Das literarische Kaleidoskop. Ausgesucht und aufgezeichnet von Regina Kehn
Frankfurt: Fischer 2013
224 Seiten. 16,99 €.

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